Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)
Was Wisliceny nicht sagte, ist vielleicht noch interessanter – nämlich, daß die Wehrmacht von ihrem Vetorecht nur in den Anfangsjahren Gebrauch machte, als deutsche Truppen in der Offensive waren; 1944, als die Deportationen aus Ungarn die Rückzugslinien von ganzen, fluchtartig sich absetzenden deutschen Armeen verstopften, wurden keine Vetos erhoben.) Doch als z. B. im Sommer 1942 die Liquidation des Warschauer Gettos mit täglichen Transporten von 5000 Menschen begann, hatte Himmler selbst mit den Bahnbehörden verhandelt, und weder Eichmann noch das RSHA hatten das geringste damit zu tun. Das Urteil griff schließlich auf die Aussage eines Zeugen im Höß-Prozeß zurück, nach der etliche Juden aus dem Generalgouvernement zusammen mit Juden aus Bialystock in Auschwitz eingetroffen seien; das polnische Bialystock war zu Ostpreußen geschlagen worden und fiel damit unter Eichmanns Zuständigkeit. Aber auch im Warthegau, der ebenfalls zum Reichsgebiet gehörte, war es nicht das RSHA, sondern der Gauleiter Greiser, der Deportationen und Ausrottungsmaßnahmen leitete. Und obgleich Eichmann im Januar 1944 das Lodzer Getto, das größte der polnischen Gettos, das zuletzt liquidiert wurde, besucht hatte, war es wiederum Himmler selbst, der einen Monat später zu Greiser kam und die Liquidation von Lodz anordnete. Die bloße Tatsache, daß Eichmann Juden nach Auschwitz transportiert hat, bewies natürlich nicht, daß alle Juden in Auschwitz von ihm transportiert worden sind, es sei denn, man wolle die absurde Behauptung der Anklage akzeptieren, daß Eichmann die Befehle Himmlers zu inspirieren vermochte. Angesichts von Eichmanns striktem Leugnen und dem völligen Fehlen wirklich schlüssiger Beweismittel klingt die Urteilsfindung in diesem Punkt leider wie ein Beispiel von in dubio contra rem .
Als dritter Punkt war Eichmanns Verantwortlichkeit für Vorgänge in den Vernichtungslagern in Betracht zu ziehen – in denen er, der Anklage zufolge, große Autorität genossen hatte. Es sprach für den hohen Grad von Unabhängigkeit und Fairneß der Richter, daß sie all die zusammengetragenen Zeugenaussagen über diese Dinge abwiesen. Ihre Begründung hierfür war hieb- und stichfest und zeigte ihr wahres Verständnis der ganzen Situation. Zunächst setzten sie auseinander, es habe in den Todeslagern zwei Kategorien von Juden gegeben, die sogenannten »Transportjuden«, die die Masse der Lagerinsassen bildeten und nichts verbrochen hatten, nicht einmal in den Augen der Nazis, und die »Schutzhaftjuden«, die ursprünglich für irgendwelche Gesetzesübertretungen in deutschen Konzentrationslagern interniert gewesen und jetzt nach dem Osten weitertransportiert worden waren, um die Konzentrationslager im Reich »judenrein« zu machen. Entsprechend dem totalitären Prinzip, den vollen Terror des Regimes gegen »Unschuldige« loszulassen, waren sie auch in den Todeslagern sehr viel besser dran als die »unschuldigen« Insassen. Über diese Verhältnisse wurde das Gericht durch die ausgezeichnete Zeugenaussage von Frau Raja Kagan unterrichtet, die von dem »großen Paradox in Auschwitz« sprach, das darin bestand, daß »diejenigen, die auf Grund einer Straftat verhaftet worden waren, besser behandelt wurden als die anderen«. Sie waren nicht Gegenstand der Selektion und blieben in der Regel am Leben. Eichmann hatte mit »Schutzhaftjuden« gar nichts zu tun; »Transportjuden« jedoch, seine Spezialität, waren von vornherein zum Tode verurteilt, abgesehen von den bekannten 25 Prozent besonders kräftiger Personen, die in einigen Lagern zum »Arbeitseinsatz« aus jedem Transport ausgesucht werden konnten. Diese Selektion jedoch war ohne Interesse für die Urteilsfindung. Eichmann wußte natürlich, daß die große Mehrzahl seiner Opfer zum Tode verurteilt war; aber da die Arbeits fähigen an Ort und Stelle von den SS-Lagerärzten ausgewählt und die Deportationslisten gewöhnlich von den Judenräten oder von der Ordnungspolizei in den Heimatländern aufgestellt wurden, niemals jedoch von Eichmann oder seinen Leuten, stand es in der Tat nicht in seiner Macht zu bestimmen, wer sterben und wer leben sollte; er konnte es nicht einmal wissen. Die Frage war demnach, ob Eichmann log, wenn er sagte: »Ich habe nie einen Juden getötet, aber ich habe auch keinen Nichtjuden getötet – ich habe überhaupt keinen Menschen getötet. Ich habe auch nie einen Befehl zum Töten eines Juden gegeben, auch keinen Befehl zum Töten eines
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