Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)
Nürnberger und anderen Nachkriegs-Prozessen sich verständlicherweise auf seine Kosten zu entlasten gesucht hatten; entscheidender aber war, daß nur er mit jüdischen Funktionären in engem Kontakt gestanden hatte, da er der einzige deutsche Beamte gewesen war, der ausschließlich mit »Judenangelegenheiten« befaßt war, so daß also sein Name in jüdischen Kreisen sehr bekannt war. Die Staatsanwaltschaft, die sich bei ihrer Anklage auf Leiden berief, die wahrlich nicht übertrieben waren, machte sich nun daran, diese ohnehin vorhandene Übertreibung von Eichmanns Rolle ins Maßlose zu steigern, und, was schlimmer war, das Berufungsurteil übertraf sogar noch die Anklage: »Der Tatbestand ist, daß der Berufungskläger überhaupt keine Befehle ›von oben‹ erhalten hat. Er war sein eigener Chef, und er gab die Befehle in allem, was jüdische Angelegenheiten betraf.« Gerade diese Vorstellungen der Anklage, die zudem bezeugten, wie wenig die Staatsanwaltschaft von dem bürokratischen Apparat der »Endlösung« begriffen hatte, waren von den Richtern des Bezirksgerichts stillschweigend korrigiert worden, das Berufungsgericht dagegen bestätigte diesen gefährlichen Unsinn voll und ganz. (Unterstützt wurde das Argument hauptsächlich durch die Aussage von Justice Michael A. Musmanno, Autor des Buches »Ten Days to Die« [1950], der bei den Nürnberger Prozessen Richter gewesen und jetzt als Belastungszeuge aus Amerika geholt worden war. Musmanno hatte in den Prozessen gegen die Leiter der Konzentrationslager und gegen die Mitglieder der Einsatzgruppen im Osten als Richter amtiert; obgleich Eichmanns Name in diesen Verfahren aufgetaucht war, hatte er ihn nur ein einziges Mal in einem seiner Urteile nebenbei erwähnt. Er hatte jedoch die Nürnberger Angeklagten im Gefängnis interviewt, und dort hatte ihm Ribbentrop erzählt, Hitler wäre ganz vernünftig gewesen, wenn er nicht unter Eichmanns Einfluß geraten wäre! Nun, Musmanno glaubte nicht alles, was man ihm erzählte, doch er hat wirklich geglaubt, Eichmann sei von Hitler selbst in sein Amt eingesetzt worden und habe über solche Macht verfügt, daß er »durch Himmler und durch Heydrich sprach«. Einige Sitzungen später trat Gustave M. Gilbert, Professor für Psychologie an der Long Island University und Autor des »Nürnberger Tagebuchs« [1950, deutsche Übersetzung 1962] für die Anklage in den Zeugenstand. Er war vorsichtiger als Musmanno, den er seinerzeit mit den Angeklagten in Nürnberg bekannt gemacht hatte. Gilbert sagte aus, daß »die Haupt kriegsverbrecher … nicht viel von Eichmann hielten«, er bezeugte ferner, daß in den Gesprächen über Kriegsverbrechen zwischen ihm und Musmanno der Name Eichmanns, den sie beide für tot hielten, nie erwähnt worden sei.) So gerieten die Richter des Bezirksgerichts, da sie die Übertreibungen der Anklage natürlich durchschauten und es nicht gut über sich bringen konnten, Eichmann zum Vorgesetzten Himmlers und Inspirator Hitlers zu ernennen, in die peinliche Lage, den Angeklagten in gewissem Sinne verteidigen zu müssen. Abgesehen von der Unerquicklichkeit einer solchen Aufgabe, war dies für Urteil wie Strafmaß ganz gleichgültig: denn wenn »die rechtliche und moralische Verantwortung desjenigen, der das Opfer dem Tode ausliefert, nach unserer Meinung nicht geringer ist und sogar größer sein kann als die Verantwortung dessen, der das Opfer mit eigenen Händen tötet«, so ist seine Schuld auch nicht darum geringer, weil er den Mordplan nicht selbst ausgeheckt hat.
In diesen Schwierigkeiten konnten die Richter wohl nicht anders als sich mit Kompromißlösungen behelfen. Das Urteil zerfällt in zwei Teile, und der weitaus größere Teil besteht aus einer Korrektur der Anklageschrift. Die Richter deuteten ihre grundsätzlich andere Auffassung bereits dadurch an, daß sie ihre Darstellung mit Deutschland begannen und mit dem Osten beendeten, denn das besagte, daß sie von den Taten des Angeklagten ausgingen und nicht von dem Unmaß jüdischen Leidens überhaupt. Unmißverständlich war die Zurückweisung der Anklage in den Worten, daß Leiden so unerhörten Ausmaßes »jenseits des menschlichen Verstehens« liegen, daß sie eine Sache »für große Schriftsteller und Dichter« sind und nicht in einen Gerichtssaal gehören, während die Taten und Motive, die diese Leiden hervorgebracht haben, weder jenseits des Verstehens noch außerhalb der Gerichtsbarkeit liegen. Die Richter gingen sogar so weit,
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