Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)
erstenmal die wilde Brutalität der Deutschen. Sie schrien uns an: ›Lauft!, lauft!‹, ich wurde auch geschlagen und fiel in einen Graben. Mein Sohn half mir auf und sagte zu mir: ›Lauf schnell, Vater, sonst mußt du sterben!‹ Als wir an die polnische Grenze kamen, zur sogenannten grünen Grenze …, gingen die Frauen zuerst ’rüber. Die Polen wußten nichts. Sie holten einen polnischen General und einige Offiziere, die untersuchten unsere Papiere und sahen, daß wir polnische Staatsbürger waren, daß wir Sonderausweise hatten. Sie beschlossen dann, uns her einzulassen. Wir wurden in ein Dorf von 6000 Einwohnern gebracht, und dabei waren wir selber 12 000 Menschen. Es regnete stark, viele Leute wurden ohnmächtig – überall sah man alte Männer und Frauen. Wir haben sehr gelitten, es gab nichts zu essen, und wir hatten seit Donnerstag nichts mehr zu essen gehabt …« Sie wurden in ein Militärlager gebracht, und dort steckte man sie »in Ställe, da es sonst nirgendwo Platz gab … Ich glaube, das war an unserem zweiten Tag [in Polen]. Nein, am ersten Tag, aus Posen kam ein Lastauto mit Brot, das war am Sonntag. Und dann schrieb ich einen Brief nach Frankreich … an meinen Sohn: ›Bitte, schreib nicht mehr nach Deutschland. Wir sind jetzt in Bentschen.‹«
Es dauerte nicht länger als vielleicht zehn Minuten, bis die Geschichte erzählt war, und als sie zu Ende war – die sinnlose, nutzlose Zerstörung von 27 Jahren in weniger als 24 Stunden –, da dachte man: Jeder, jeder soll seinen Tag vor Gericht haben – ein törichter Gedanke. In den endlosen Sitzungen, die dann folgten, stellte sich heraus, wie schwer es ist, eine Geschichte zu erzählen, daß es hierzu – jedenfalls außerhalb jener Verwandlung, welche der Dichtung eignet – einer Reinheit der Seele, einer ungespiegelten und unreflektierten Unschuld des Herzens und Geistes bedarf, die nur die Gerechten besitzen. Nicht einer, weder vorher noch nachher, konnte es mit der unantastbaren schmucklosen Wahrhaftigkeit des alten Mannes aufnehmen.
Niemand kann behaupten, daß Grynszpans Aussage auch nur entfernt so etwas wie ein »dramatischer Höhepunkt« war. Ein solcher Höhepunkt kam jedoch einige Wochen später, und er kam unerwartet, gerade als Landau einen seiner verzweifeltsten Versuche machte, das Verfahren wieder unter die Kontrolle der normalen Prozeßordnung zu bringen. Im Zeugenstand befand sich Abba Kovner, »ein Dichter und Schriftsteller«, der weniger Aussagen gemacht als vielmehr eine Ansprache ans Publikum gehalten hatte, mit aller Gewandtheit eines an öffentliches Sprechen Gewöhnten, der Unterbrechungen aus den Zuhörerreihen nicht schätzt. Er war vom Vorsitzenden um Kürze gebeten worden, was ihm offensichtlich nicht behagte; Herrn Hausner, der seinen Zeugen in Schutz genommen hatte, war bedeutet worden, er könne sich »nicht über Mangel an Geduld von seiten des Gerichts beklagen«, was ihm natürlich ebensowenig behagte. In diese recht gespannte Atmosphäre fiel zufällig der Name Anton Schmidts, der diesem Publikum nicht unbekannt war, da Yad Washems hebräisches Bulletin die Geschichte dieses ehemaligen Feldwebels der deutschen Wehrmacht einige Jahre zuvor veröffentlicht und eine Anzahl jiddischer Zeitungen in Amerika sie aufgegriffen hatte. Anton Schmidt befehligte einen Streifendienst in Polen, der verstreute und von ihrer Einheit abgeschnittene deutsche Soldaten aufsammelte. Im Verlauf dieser Tätigkeit war er auf Mitglieder der jüdischen Untergrundbewegung gestoßen, darunter auf Herrn Kovner, ein prominentes Mitglied, und er hatte den jüdischen Partisanen mit gefälschten Papieren und Wehrmachtsfahrzeugen geholfen. Vor allem aber: »Er nahm kein Geld dafür.« Das währte fünf Monate lang, vom Oktober 1941 bis zum März 1942. Dann wurde Anton Schmidt verhaftet und hingerichtet. (Der Anstoß zu dieser Geschichte war vom Ankläger gekommen, als Kovner erklärte, den Namen Eichmann habe er zuerst von Schmidt gehört, der ihm von Gerüchten in der Wehrmacht berichtet hatte, wonach Eichmann es sei, »der all diese Dinge organisiert«.)
Dies war keineswegs die erste Erwähnung von Hilfe, die von außen, aus der nichtjüdischen Welt, gekommen war. Richter Halevi stellte den Zeugen die Frage »Haben die Juden irgendwelche Hilfe bekommen?« mit der gleichen Regelmäßigkeit wie der Ankläger jene andere Frage: »Warum habt ihr nicht rebelliert?« Die Antworten waren sehr verschieden und widerspruchsvoll – »Wir
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