Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)
hatten die ganze Bevölkerung gegen uns«, Juden, die von christlichen Familien verborgen wurden, hätte man »an den Fingern einer Hand abzählen können, fünf oder sechs Leute« von insgesamt 13 000 –, aber im großen und ganzen war die Situation überraschenderweise in Polen besser gewesen als in irgendeinem anderen osteuropäischen Lande. (Es gab, wie ich erwähnte, keine Zeugenaussage über Bulgarien.) Ein Jude, der mit einer polnischen Frau verheiratet war und in Israel lebte, sagte aus, wie seine jetzige Frau den ganzen Krieg hindurch ihn und zwölf andere Juden versteckt hatte; ein anderer hatte aus der Vorkriegszeit einen christlichen Freund, zu dem er aus einem Lager floh, der Freund half ihm und wurde später wegen der Hilfe, die er Juden gegeben hatte, erschossen. Ein anderer Zeuge behauptete, die polnische Untergrundbewegung habe viele Juden mit Waffen versorgt und Tausende von jüdischen Kindern in polnischen Familien untergebracht und dadurch gerettet. Die hiermit verbundenen Gefahren waren ungeheuer; da gab es die Geschichte einer ganzen polnischen Familie, die auf die brutalste Weise ausgerottet wurde, weil sie ein sechs Jahre altes jüdisches Mädchen adoptiert hatte. Aber in Kovners Aussage wurde zum ersten und letzten Male eine solche Geschichte über einen Deutschen erzählt, denn der einzige andere Fall, in dem es sich um einen Deutschen handelte, kam nur in einem Dokument vor; ein Wehrmachtsoffizier hatte indirekt geholfen, durch die Sabotage gewisser Polizeianordnungen; ihm war nichts geschehen, aber die Sache war doch für ernst genug gehalten worden, um in der Korrespondenz zwischen Himmler und Bormann vorzukommen.
Während der wenigen Minuten, die Kovner brauchte, um über die Hilfe eines deutschen Feldwebels zu erzählen, lag Stille über dem Gerichtssaal, es war, als habe die Menge spontan beschlossen, die üblichen zwei Minuten des Schweigens zu Ehren des Mannes Anton Schmidt einzuhalten. Und in diesen zwei Minuten, die wie ein plötzlicher Lichtstrahl inmitten dichter, undurchdringlicher Finsternis waren, zeichnete ein einziger Gedanke sich ab, klar, unwiderlegbar, unbezweifelbar: wie vollkommen anders alles heute wäre, in diesem Gerichtssaal, in Israel, in Deutschland, in ganz Europa, vielleicht in allen Ländern der Welt, wenn es mehr solcher Geschichten zu erzählen gäbe.
Es gibt natürlich Erklärungen dafür, daß diese Zeit so furchtbar arm an Gesten einfachster Menschlichkeit war, und sie sind viele Male vorgetragen und wiederholt worden. Ich will ihren Kern in den Worten eines der wenigen subjektiv ehrlichen Memoirenbücher der Kriegszeit wiedergeben, die in Deutschland veröffentlicht worden sind. Peter Bamm, ein deutscher Militärarzt, der an der russischen Front diente, berichtet in »Die unsichtbare Flagge« (1952) über die Ermordung von Juden in Sewastopol. Sie wurden von »den anderen«, wie er die SS-Mordkommandos nennt, um sie von den gewöhnlichen Soldaten zu unterscheiden, deren Anständigkeit das Buch preist, zusammengetrieben und in einen versiegelten Sondertrakt des ehemaligen GPU-Gefängnisses gesteckt, das an die Offiziers unterkunft angrenzte, in der Bamms eigene Einheit einquartiert war. Sie mußten dann einen fahrbaren Gaswagen besteigen, in dem sie nach wenigen Minuten starben, worauf der Fahrer die Leichen aus der Stadt hinausfuhr und sie in Panzergräben ablud. »Wir wußten das. Wir taten nichts. Jeder, der wirklich protestiert hätte oder etwas gegen das Mordkommando unternommen hätte, wäre vierundzwanzig Stunden später verhaftet worden und verschwunden. Es gehört zu den Raffinements der totalitären Staatskonstruktionen unseres Jahrhunderts, daß sie ihren Gegnern keine Gelegenheit geben, für ihre Überzeugung einen großen dramatischen Märtyrertod zu sterben. Den hätte vielleicht mancher von uns auf sich genommen. Der totalitäre Staat läßt seine Gegner in einer stummen Anonymität verschwinden. Es ist gewiß, daß jeder, der es gewagt hätte, lieber den Tod zu erleiden als schweigend Verbrechen zu dulden, nutzlos sein Leben geopfert hätte. Damit will ich nicht sagen, daß ein solches Opfer moralisch sinnlos gewesen wäre. Es ist nur gesagt, daß es praktisch nutzlos gewesen wäre. Niemand von uns hatte eine Überzeugung, deren Wurzeln tief genug gingen, ein praktisch nutzloses Opfer um eines höheren moralischen Sinnes willen auf sich zu nehmen.« All dies ist völlig richtig, und das einzige, was man hinzufügen kann, weil der Autor
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