Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)
es nicht bemerkt, ist die Belanglosigkeit einer »Anständigkeit«, der der »höhere moralische Sinn« abhanden gekommen ist.
Aber es war nicht die Belanglosigkeit bloßen Anstands, die aus der Geschichte des Feldwebels Anton Schmidt deutlich wurde, sondern der verhängnisvolle Irrtum, der in den rechtfertigenden Argumenten steckt, die auf den ersten Blick so hoffnungslos einleuchtend anmuten. Es ist zwar richtig, daß totalitäre Herrschaft versucht, alle Taten, gute und böse, in der Versenkung des Vergessens verschwinden zu lassen. Aber genauso wie die fieberhaften Versuche der Nazis vom Juni 1942 an, alle Spuren der Massaker zu beseitigen – durch Kremierung, durch Verbrennung in offenen Gruben, durch Sprengungen, Flammenwerfer und Knochenmahlmaschinen –, zum Scheitern verurteilt waren, so waren auch alle Anstrengungen, ihre Gegner »in stummer Anonymität verschwinden« zu lassen, vergebens. So tief ist keine Versenkung, daß alle Spuren vernichtet werden könnten, nichts Menschliches ist so vollkommen; dazu gibt es zu viele Menschen in der Welt, um Vergessen endgültig zu machen. Einer wird immer bleiben, um die Geschichte zu erzählen. Deshalb kann auch nichts jemals »praktisch nutzlos« sein, jedenfalls nicht auf die Dauer. Es wäre heute von größtem praktischen Nutzen für Deutschland, nicht nur für sein Prestige im Ausland, sondern für eine Wiedererlangung des inneren Gleichgewichts, wenn es mehr derartige Geschichten zu erzählen gäbe. Denn die Lehre solcher Ge schichten ist einfach, ein jeder kann sie verstehen. Sie lautet, politisch gesprochen, daß unter den Bedingungen des Terrors die meisten Leute sich fügen, einige aber nicht . So wie die Lehre, die man aus den Ländern im Umkreis der »Endlösung« ziehen kann, lautet, daß es in der Tat in den meisten Ländern »geschehen konnte«, aber daß es nicht überall geschehen ist . Menschlich gesprochen ist mehr nicht vonnöten und kann vernünftigerweise mehr nicht verlangt werden, damit dieser Planet ein Ort bleibt, wo Menschen wohnen können.
XV Das Urteil, die Berufung und die Hinrichtung
Eichmann verbrachte die letzten Monate des Krieges in Berlin, wo er nichts zu tun hatte – er war kaltgestellt und wurde von den anderen Ressortleitern im RSHA geschnitten, die täglich in sein Dienstgebäude zum Mittagessen kamen, ohne ihn je an ihren Tisch zu bitten. Er machte sich zu tun mit seinen selbstentworfenen Verteidigungsanlagen, um für die »letzte Schlacht« um Berlin gerüstet zu sein; sein einziger offizieller Dienst bestand in gelegentlichen Besuchen des Gettos Theresienstadt, wo er Delegierte des Roten Kreuzes herumführte. Ausgerechnet ihnen schüttete er jetzt sein Herz aus wegen Himmlers neuer »humaner Richtung« gegenüber den Juden und der dazugehörigen »Absicht, Konzentrationslager künftig nach englischem Muster umzustellen«. Im April 1945 traf er zum letzten Male zu einer seiner seltenen Besprechungen mit Himmler zusammen, der ihm befahl, »unverzüglich hundert, zweihundert, jedenfalls alle prominenten Juden aus Theresienstadt« herauszusuchen, nach Österreich zu transportieren und dort in Hotels unterzubringen, so daß Himmler sie in seinen zu erwartenden Verhandlungen mit Eisenhower als »Geiseln« benutzen könne. Die Absurdität dieses Auftrags scheint Eichmann nicht aufgegangen zu sein; er machte sich auf den Weg, »wieder Kummer im Herzen, denn meine Verteidigungsanlage, die ich mir so schön zurechtgelegt hatte, mußte ich wieder im Stich lassen« (sic!), doch kam er nie bis Theresienstadt, da alle Straßen von den heranrückenden russischen Armeen blockiert waren. Statt dessen landete er in Alt-Aussee in Österreich, wohin sich Kaltenbrunner abgesetzt hatte. Kaltenbrunner hatte kein Interesse an Himmlers »prominenten Juden« und befahl Eichmann, eine Einheit für den Partisanenkrieg in den österreichischen Bergen zusammenzustellen. Eichmann reagierte mit großem Enthusiasmus: »Das war wieder eine lohnende Aufgabe, die mich freute.« Aber gerade als es ihm gelungen war, einige hundert mehr oder minder kampfunfähige Männer einzusammeln, von denen die wenigsten je ein Gewehr in der Hand gehabt hatten, und er ein Depot von zurückgelassenen Waffen aller Art in Besitz genommen hatte, erhielt er den neuesten Himmler-Befehl: »Auf Engländer und Amerikaner darf nicht geschossen werden.« Das war das Ende. Er schickte seine Männer nach Hause und übergab seinem vertrauten Rechtsberater, dem Regierungsrat Hunsche,
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