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Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)

Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)

Titel: Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannah Arendt
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schlüssigen Präzedenzfall liefert – wird nicht damit begründet, daß alle über ihn zu Gericht sitzen können, weil er sich gegen alle vergangen hat, sondern erfolgt, weil es sich um Verbrechen auf hoher See handelt, die gleichsam im Niemandsland stattgefunden haben. Überdies handelt der Pirat, der alle Gesetze mißachtet und keiner Fahne Gefolgschaft leistet, prinzipiell auf eigene Rechnung und Gefahr; er ist vogelfrei, weil er beschlossen hat, sich aus allen menschlichen Gemeinschaften zu lösen, und dies ist der Grund, daß er zum Feind aller geworden ist. Nun wird man ja nicht gut behaupten können, daß Eichmann auf eigene Rechnung handelte oder daß er sich keiner Fahne verpflichtet fühlte. Die Piraten-Theorie konnte daher in diesem konkreten Fall nur dazu dienen, den wirklich zentralen und neuartigen Problemen, die der Fall Eichmann aufwarf, auszuweichen. Eichmann gehörte nicht einer Verbrecherbande an, die sich außerhalb der bestehenden rechtsstaatlichen Ordnung gestellt hatte, sondern handelte im Auftrag eines Staates, dessen Ordnung verbrecherisch war, und er hatte sich nicht außerhalb des Gesetzes gestellt, sondern im Gegenteil die geltenden Gesetze des Landes buchstäblich erfüllt. Das juristische Problem aller dieser Prozesse besteht ja gerade darin, daß die in ihnen verhandelten Delikte unter Bedingungen begangen wurden, in denen das Verbrechen legal und jede menschliche Handlung illegal waren.
    Die Analogie zwischen Völkermord und Piraterie ist nicht neu, und deshalb ist es nicht unwichtig festzustellen, daß die Konvention gegen Völkermord, deren Artikel von der Vollversammlung der Vereinten Nationen am 9. Dezember 1948 angenommen wurden, ausdrücklich den Anspruch auf Universal gerichtsbarkeit zurückwies und statt dessen festlegte: »Des Völkermords … beschuldigte Personen … werden vor die zuständigen Gerichte des Staates, auf dessen Gebiet die Handlung begangen worden war, oder vor einen internationalen Gerichtshof gestellt, der für jene vertragschließenden Parteien zu ständig ist, die sich seiner Zuständigkeit unterworfen haben« (Art. 6). In Übereinstimmung mit dieser Konvention, die Israel unterzeichnet hatte, hätte das Gericht entweder versuchen müssen, ein internationales Tribunal zu errichten oder aber das Territorialprinzip neu zu formulieren, so daß es auf Israel und den Fall Eichmann zutraf. Beide Alternativen lagen definitiv im Rahmen des Möglichen und innerhalb der Kompetenz des Gerichts. Die Möglichkeit der Errichtung eines internationalen Gerichtshofs wurde vom Gericht kurzerhand abgelehnt aus Gründen, auf die wir noch zurückkommen werden. Das Gericht erklärte sich schließlich für zuständig auf Grund aller drei der in Betracht kommenden Prinzipien: des Territorialprinzips, des passiven Personalitätsprinzips und des Universalprinzips, als könne man aus der Addition von drei ganz verschiedenen Rechtsprinzipien einen sicher gegründeten Zuständigkeitsanspruch gewinnen. Daß aber keine sinnvolle Neufassung des Territorialprinzips angestrebt wurde, war sicherlich dem geschuldet, daß alle Beteiligten sich scheuten, auch nur im mindesten von Präzedenzfällen abzuweichen und neues Recht zu etablieren. Israel hätte sehr wohl territoriale Gerichtsbarkeit für sich in Anspruch nehmen können, wenn es erklärt hätte, daß »Territorium« im juristischen Sinne ein politischer und rechtlicher und nicht ein bloß geographischer Begriff ist. Territorium in diesem Sinne meint nicht so sehr, und vor allem nicht primär, ein Stück Land, es bezieht sich vielmehr auf den »Raum«, der zwischen den Gliedern einer Gruppe unweigerlich entsteht, wenn sie in jahrtausendealten Bezügen sprachlicher, religiöser und geschichtlicher Natur miteinander verbunden sind, die sich zudem in Sitten und Gesetzen niedergeschlagen haben, die sie gegen die Außenwelt schützen und untereinander differenzieren. Solche Beziehungen werden räumlich dadurch manifest, daß sie selber den Raum konstituieren, innerhalb dessen die verschiedenen einzelnen der Gruppe sich aufeinander beziehen und miteinander umgehen. Es wäre niemals zur Entstehung des Staates Israel gekommen, wenn das jüdische Volk in den langen Jahrhunderten der Zerstreuung sich nicht einen solchen Zwischen-Raum über alle geographische Entfernung hinweg geschaffen und bewahrt hätte, und zwar vor der Rückkehr in die alte Heimat. Aber dem Gericht war alles noch nicht Dagewesene suspekt, und so verzichtete es sogar darauf,

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