Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)
Überlegungen wie, daß Buenos Aires heute kaum die gleichen rechtlichen Garantien und gewiß nicht die gleiche Publizität für einen Angeklagten dieser Art geboten hätte wie Paris oder Berlin in den zwanziger Jahren, bleibt es mehr als zweifelhaft, ob diese Lösung im Fall Eichmanns vertretbar gewesen wäre, offenbar keinesfalls, wenn Regierungsagenten ins Spiel gekommen wären. Für die Tat von Schwartzbard und Tindelian sprach, daß sie beide Völkern angehörten, die weder einen eigenen Staat noch eine eigene Rechtsprechung besaßen, und daß es in der Welt kein Tribunal gab, vor dem ein Kläger aus diesen Völkern hätte erscheinen können. Schwartzbard, der 1938 gestorben ist, über zehn Jahre vor der Proklamation eines Judenstaates, war kein Zionist und kein jüdischer Nationalist, und dennoch hätte er zweifellos den Staat Israel schon deshalb begeistert begrüßt, weil es durch ihn endlich ein Tribunal für Verbrechen gab, die so oft ungesühnt geblieben sind. Das hätte seinem Rechtsgefühl entsprochen. Und wenn wir den Brief lesen, den er aus dem Gefängnis in Paris an seine »Brüder und Schwestern« in Odessa gerichtet hat –
»Faites savoir dans les villes et dans les villages de Balta, Proskouro, Tzcherkass, Ouman, Jitomir …, portez-y le mes sage édifiant: la colère juive a tiré sa vengeance! Le sang de l’assassin Petlioura, qui a jailli dans la ville mondiale, à Paris, … rappellera le crime féroce … commis envers le pauvre et abandonné peuple juif« –,
hören wir sofort, zwar nicht die Sprache von Herrn Hausner während des Prozesses (Schalom Schwartzbards Sprache war unendlich viel würdiger und erschütternder), wohl aber einen Ton, der an die Gefühle und die Stimmung von Juden in aller Welt rühren mußte.
Ich habe die Ähnlichkeiten zwischen dem Schwartzbard-Prozeß von 1927 in Paris und dem Eichmann-Prozeß von 1961 in Jerusalem hervorgehoben, weil man an ihnen sehen kann, wie wenig Israel, wie wenig das jüdische Volk im ganzen darauf vorbereitet war, die Beispiellosigkeit der Verbrechen, deren Eichmann angeklagt war, zu erkennen, und wie schwierig eine solche Erkenntnis gerade für das jüdische Volk ist. Dachte man ausschließlich in Vorstellungen jüdischer Geschichte, so mußte die Katastrophe, die unter Hitler über das Volk hereingebrochen war (und in der ein Drittel zugrunde ging), nicht als das neuartigste aller Verbrechen, als Völkermord, für den es keine Präzedenzien gab, erscheinen, sondern im Gegenteil als das älteste, das Juden kannten und an das sie sich erinnerten. Das Mißverständnis war fast unvermeidlich, wenn wir nicht nur die Fakten der jüdischen Geschichte, sondern auch, was wichtiger ist, das gängige historische Selbstverständnis der Juden berücksichtigen, und es liegt tatsächlich an der Wurzel allen Versagens und aller Mängel des Jerusalemer Prozesses. Keiner der Beteiligten ist je zu einem klaren Verständnis des wahren Schreckens von Auschwitz gelangt, der anderer Art ist als all die Greuel der Vergangenheit. Dem Ankläger und den Richtern gleichermaßen erschien dieser Völkermord nur als der schrecklichste Pogrom in der jüdischen Geschichte. Daher glaubten sie, daß ein direkter Weg von dem anfänglichen Antisemitismus der Nazipartei zu den Nürnberger Gesetzen und von dort zur Austreibung der Juden aus dem Reich und, schließlich, zu den Gaskammern führte. Politisch und rechtlich aber waren diese »Verbrechen« nicht nur quantitativ, sondern qualitativ verschieden.
Die Nürnberger Gesetze von 1935 legalisierten die Diskriminierung, die ohnehin von der deutschen Mehrheit gegenüber der jüdischen Minderheit praktiziert wurde. Völkerrechtlich war es das Privileg der souveränen deutschen Nation, jeden ihr passend scheinenden Teil der Bevölkerung zur nationalen Minorität zu erklären, solange ihre Minderheitengesetze sich im Rahmen der Rechte und Garantien hielten, die durch international anerkannte Minderheitenverträge und -abkommen eingeführt worden waren. Internationale jüdische Organisationen versuchten deshalb sofort, für diese neueste Minorität die gleichen Rechte und Garantien zu erhalten, die in Genf den Minoritäten Ost- und Südosteuropas gewährt worden waren. Und obwohl dies nicht gelang, wurden die Nürnberger Gesetze von anderen Nationen allgemein als Teil des deutschen Rechts an erkannt, so daß es für einen deutschen Staatsangehörigen z. B. unmöglich war, in Holland eine sogenannte »Mischehe« zu
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