Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)
den einzigartigen Ursprung des israelischen Staates, der doch gewiß ihren Herzen und Gedanken am nächsten stand, juristisch neu zu unterbauen. Statt dessen über schwemmte es das Verfahren mit einer Flut von Präzedenzfällen – während der Sitzungen der ersten Prozeßwoche, auf die sich die ersten 53 Abschnitte des Urteils beziehen –, von denen viele, jedenfalls in den Ohren des Laien, wie Haarspaltereien klangen.
So war denn der Eichmann-Prozeß nicht mehr, aber auch nicht weniger als der letzte der zahlreichen Nachfolgeprozesse, die in den Nachkriegsjahrzehnten auf die Nürnberger Prozesse gefolgt sind. Und die Anklageschrift gab im Anhang die offizielle Interpretation des Nazigesetzes von 1950 durch den da maligen Justizminister Pinchas Rosen, die dies eindeutig klar stellte: »Während andere Völker die passende Gesetzgebung zur Bestrafung der Nazis und ihrer Kollaborateure kurz nach dem Ende des Krieges, und einige sogar bevor er zu Ende war, erlassen haben, hatte das jüdische Volk vor der Errichtung seines Staates … keine politische Autorität, um Naziverbrecher und ihre Helfer vor Gericht zu bringen.« Demzufolge unterschied sich der Eichmann-Prozeß von den Nachfolgeprozessen nur in einer Hinsicht: der Angeklagte war nicht ordnungsgemäß verhaftet und an Israel ausgeliefert worden; um ihn vor Gericht zu bringen, war eine klare Verletzung des Völkerrechts erfolgt. Wie bereits erwähnt, verdankt Israel seinen Erfolg in dieser Angelegenheit nur Eichmanns faktischer Staatenlosigkeit, und man kann verstehen, daß trotz der zahllosen in Jerusalem zitierten Präzedenzfälle zur Rechtfertigung der Entführung der einzige relevante, die 1935 erfolgte Entführung von Berthold Jakob, einem deutsch-jüdischen linken Journalisten, durch Gestapoagenten aus der Schweiz, nie erwähnt wurde. (Keiner der anderen Präzedenzfälle traf wirklich zu, weil sie ausnahmslos Personen betrafen, die sich der für sie zuständigen Gerichtsbarkeit durch Flucht entzogen hatten und nun nicht nur zum Tatort zurückgebracht wurden, sondern auch vor das Gericht gestellt wurden, das einen rechtmäßigen Haftbefehl erlassen hatte oder doch hätte erlassen können – was alles in diesem Fall nicht möglich gewesen wäre.) Durch die Entführung hatte Israel in der Tat das Territorialprinzip verletzt, dessen große Bedeutung in der Tatsache liegt, daß die Erde von vielen Völkern bewohnt wird und daß diese Völker vielen verschiedenen Rechtsordnungen unterstehen, so daß jede Ausdehnung des Rechts eines Landes über sein Hoheitsgebiet hinaus es in unmittelbaren Konflikt mit dem Landesrecht eines anderen Gebietes bringen muß.
Dies blieb leider der einzige Faktor im Eichmann-Prozeß, für den es schwerhielt, einen Präzedenzfall zu finden, ganz abgesehen davon, daß die Entführung wohl das letzte war, was für eine künftige Rechtsordnung als Vorbild dienen könnte. (Was würden wir wohl dazu sagen, wenn es morgen einem afrikanischen Staat einfiele, seine Agenten nach Mississippi zu schicken und dort einen prominenten Verfechter der Rassentrennung zu entführen? Und der Gedanke, daß ein Gericht in Ghana oder im Kongo sich auf den Eichmann-Prozeß berufen könnte, ist auch nicht sehr beruhigend.) Die Entführung konnte man rechtfertigen durch die Beispiellosigkeit des Verbrechens und die Einzigartigkeit der Entstehung des jüdischen Staates. Als gewichtigsten »mildernden Umstand« der völkerrechtlichen Verletzungen ließ sich die Tatsache anführen, daß es kaum eine andere Möglichkeit gegeben hätte, Eichmann vor Gericht zu stellen. Das Verhalten Argentiniens bei der Auslieferung bekannter Naziverbrecher war notorisch; selbst wenn ein Auslieferungsvertrag zwischen Israel und Argentinien bestanden hätte, wäre einem Auslieferungsbegehren höchstwahrscheinlich nicht stattgegeben worden. Ebenso nutzlos wäre die Übergabe Eichmanns an die argentinische Polizei zwecks Auslieferung an die Bundesrepublik gewesen; denn die Bonner Regierung hatte Argentinien bereits erfolglos um die Auslieferung so berüchtigter Naziverbrecher wie Karl Klingenfuß und Dr. Josef Mengele, der die medizinischen Experimente und »Selektionen« in Auschwitz leitete, ersucht. Im Falle Eichmanns wäre ein solcher Antrag doppelt hoffnungslos gewesen, da nach argentinischem Recht alle im Zusammenhang mit dem letzten Krieg begangenen Verbrechen 15 Jahre nach dem Ende dieses Krieges unter die Verjährungsbestimmungen fallen, so daß Eichmann nach dem 5. Mai
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