Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)
1960 sogar gesetzlich nicht mehr belangt werden konnte. Kurz, mit legalen Mitteln hätte man seiner nicht habhaft werden können.
Wer meint, daß das Gesetz im Dienste der Gerechtigkeit steht und sonst nichts bezweckt, wird geneigt sein, den Akt der Entführung zu entschuldigen, nicht wegen der Präzedenzfälle, sondern im Gegenteil als eine verzweifelte, präzedenzlose und Präzedenz nicht setzende Handlung, die sich aus dem Fehlen einer völkerrechtlichen Strafgesetzgebung und Strafgewalt ergibt. Von hier aus gesehen, gab es nur eine wirkliche Alternative zum Handeln Israels: anstatt Eichmann festzunehmen und ihn nach Israel zu transportieren, hätte man ihn direkt an Ort und Stelle, in den Straßen von Buenos Aires, töten können. Diese Möglichkeit wurde in den Diskussionen über den Fall oft erwähnt und, was einigermaßen merkwürdig war, am leidenschaftlichsten von denen empfohlen, die von der Entführung besonders schockiert waren. Die Idee hatte einiges für sich, denn die Tatbestände standen außer jedem Zweifel; aber ihre Befürworter vergaßen, daß, wer das Gesetz in die eigene Hand nimmt, der Gerechtigkeit nur dann einen Dienst erweist, wenn er gewillt ist, die Sachlage in einer Weise zu verändern, die dem Gesetz wieder Gültigkeit verschafft und so seine Handlung zumindest nachträglich rechtfertigt. Hierfür gab es zwei Präzedenzfälle aus der nahen Vergangenheit. Der eine ist der Fall des Schalom Schwartzbard, der am 25. Mai 1926 in Paris Simon Petljura erschoß, den ehemaligen Hetman der ukrainischen Armeen, der für die Pogrome während des russischen Bürger krieges verantwortlich war, die in den Jahren von 1917 bis 1920 etwa 100 000 Opfer gefordert hatten. Der andere ist der Fall des Armeniers Tindelian, der 1921, mitten in Berlin, Taalat Bey erschoß, den berüchtigten Totschläger in den armenischen Pogromen von 1915, bei denen schätzungsweise ein Drittel (600 000) der armenischen Bevölkerung in der Türkei ermordet wurde. Das entscheidende in beiden Fällen ist, daß beide Attentäter sich nicht damit begnügten, »ihren« Verbrecher zu töten, sondern sich sofort der Polizei stellten und darauf bestanden, daß ihnen der Prozeß gemacht wurde, den sie dazu ausnutzten, um vor aller Welt die Verbrechen an ihrem Volk, die unbestraft geblieben waren, gerichtsnotorisch zu machen. Besonders der Schwartzbard-Prozeß wurde mit ähnlichen Methoden wie der Eichmann-Prozeß geführt und die Tatbestände durch eine sorgfältig zusammengestellte Dokumentensammlung erhärtet, nur daß damals all das, was im Eichmann-Prozeß von der Staatsanwaltschaft vorgebracht wurde, Aufgabe der Verteidigung war, die ihr Material von dem Comité des Délégations Juives unter dem Vorsitz von Leo Motzkin erhielt, das anderthalb Jahre für die Vorbereitung des Prozesses brauchte und die Dokumente später unter dem Titel »Les Pogromes en Ukraine sous les gouvernements ukrainiens 1917 – 1920« veröffentlichte. Hier waren es der Angeklagte und sein Anwalt, die im »Namen der Opfer« ihre Stimme erhoben, und so sehr waren die Argumente die gleichen, daß selbst der Punkt von den Juden, »die sich niemals verteidigten«, nicht fehlte. (Siehe das Plädoyer von Henri Torrès, das unter dem Titel »Le Procès des Pogromes« 1926 erschienen ist.) In beiden Fällen kam das Gericht zu einem Freispruch; man war wohl allgemein der Meinung, die George Suarez voller Bewunderung für Schwartzbard aussprach: ihre Tat bedeute, daß »das Volk sich endlich dazu durchgerungen habe, sich zu verteidigen, daß es moralisch nicht mehr versage und daß es Beleidigungen nicht mehr mit resignierter Geste hinnehme«.
Die Vorteile dieser Lösung des Konflikts zwischen Legalität und Gerechtigkeit springen in die Augen. Zwar sind auch solche Prozesse »Schau«-Prozesse, aber ihr »Held«, auf den alle Augen gerichtet sind, ist nun wirklich ein Held. Dabei bleibt der Prozeßcharakter des Verfahrens sehr viel besser gewahrt, weil nicht »ein Schauspiel abrollt, dessen Ende im voraus feststeht«, sondern der Prozeß ein »unreduzierbares Risiko« behält, das nach Kirchheimer eines der wesentlichen Charakteristiken des Strafprozesses bildet. Auch klingt das J’accuse , das vom Standpunkt des Opfers unerläßlich ist, natürlich viel überzeugender aus dem Mund des Mannes, der das Gesetz selbst in die Hand genommen hat, als in der Stimme eines von der Regierung beauftragten Funktionärs, der nichts riskiert. Aber ganz abgesehen von praktischen
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