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Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)

Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)

Titel: Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannah Arendt
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größerer Bedeutung als diese offiziellen Abkommen waren jedoch für Eichmann die Emissäre aus Palästina, die aus eigener Initiative und ohne sich von den deutschen Zionisten oder der Jewish Agency viel dreinreden zu lassen, an Gestapo und SS herantraten. Sie verhandelten um die Unterstützung der illegalen jüdischen Einwanderung in das englische Mandatsgebiet und fanden bei der Gestapo ebenso wie bei der SS Gehör. Mit Eichmann hatten sie in Wien zu tun und berichteten später darüber, daß er »höflich« gewesen sei, »nicht der Typ, der die Leute anschnauzt«; er habe ihnen sogar Bauernhöfe und landwirtschaftliche Geräte für die Umschulung künftiger Emigranten zur Verfügung gestellt. (»Bei einer Gelegenheit vertrieb er eine Gruppe von Nonnen aus einem Kloster, um ein Auswandererlehrgut für junge Juden bereitzustellen«, und ein anderes Mal sei »ein Sonderzug [bereitgestellt] und von Naziposten begleitet« worden, um eine Gruppe von Emigranten, die angeblich nach zionistischen Schulungslagern in Jugoslawien unterwegs waren, sicher über die Grenze zu bringen.) Wenn man sich an den Bericht von Jon und David Kimche hält – der »voll und ganz auf der großzügigen Mitarbeit aller Hauptbeteiligten« basiert und unter dem Titel »The Secret Roads: The ›Illegal‹ Migration of a People, 1938 – 1948« in London im Jahre 1954 veröffentlicht worden ist –, dann sprachen diese Juden aus Palästina eine Sprache, die von Eichmanns eigenem damaligen Sprachgebrauch keineswegs total verschieden war. Sie waren von den Gemeinschaftssiedlungen in Palästina nach Europa geschickt worden, für Rettungsaktionen interessierten sie sich nicht: »das war nicht ihre Aufgabe«. Vielmehr wollten sie »brauchbares Material« auswählen, und im Rahmen dieses Unternehmens betrachteten sie – da ja das Ausrottungsprogramm noch nicht in Gang gekommen war – als ihren Hauptgegner nicht diejenigen, die den Juden das Leben in der alten Heimat, in Deutschland und Österreich, unerträglich machten, sondern jene anderen, die den Zugang zur neuen Heimat versperrten; ihr Feind war ganz eindeutig nicht Deutschland, sondern England. Dabei konnten sie im Unterschied zu den einheimischen Juden natürlich mit den Nazibehörden nur deshalb auf annähernd gleichem Fuß verhandeln, weil sie den Schutz der Mandatsmacht genossen; vermutlich waren sie die ersten Juden, die offen von gemeinsamen Interessen sprachen – jedenfalls waren sie die ersten, denen es erlaubt wurde, unter den Juden in den Konzentrationslagern »junge jüdische Siedler auszusuchen«. Selbstverständlich konnten sie nicht ahnen, was diese Art der Auslese einmal bedeuten würde, immerhin glaubten auch sie, daß, wenn die Dinge wirklich so lagen und nur ein Rest überleben würde, die Juden selbst die Auswahl treffen sollten. Dieser fundamentale Trugschluß hat schließlich dazu geführt, daß die nicht ausgewählte Mehrheit der Juden sich unausweichlich von zwei Feinden bedrängt sah: von den Nazibehörden einerseits und von den jüdischen Behörden auf der anderen. Was aber die Wiener Episode anlangt, so wird Eichmanns empörende Behauptung, Hunderttausende von jüdischen Leben »gerettet« zu haben, die im Gerichtssaal mit Hohngelächter quittiert wurde, aufs merkwürdigste unterstützt durch den oben erwähnten Bericht der beiden jüdischen Historiker:
    »Was damals geschah, muß man für eine der paradoxesten Episoden in der ganzen Epoche der Naziherrschaft halten: der Mann, der als einer der Erzhenker des jüdischen Volks in die Geschichte eingehen sollte, trat zunächst als aktiver Mitarbeiter an der Rettung der Juden aus Europa auf.«
    Zu seinem Pech konnte sich Eichmann freilich an kein einziges Datum erinnern, das für seine unwahrscheinliche Geschichte einen wenn auch noch so fadenscheinigen Beleg erbracht hätte, während sein berufener Verteidiger wahrscheinlich noch nicht einmal gewußt hat, daß es da Tatsachen gab, an die man sich hätte erinnern können. (Dr. Servatius hätte z. B. die ehemaligen Agenten der Aliya Beth, wie sich die Organisation für illegale Einwanderung nach Palästina nannte, als Zeugen für die Verteidigung aufrufen können; sie lebten in Israel und erinnerten sich bestimmt noch an Eichmann.) Eichmanns Gedächtnis funktionierte nur in bezug auf Vorgänge, die in direktem Zusammenhang mit seiner Laufbahn standen. So konnte er sich gut daran erinnern, daß ihn ein Funktionär aus Palästina in Berlin besucht, ihm über das Leben in

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