Eichmann-Syndikat: Tom Sydows fünfter Fall (German Edition)
der amerikanische Offizier gewesen, welcher ihr nach der
Flucht nach Österreich über den Weg gelaufen war. Von Natur aus wählerisch, hätte
sie es vorgezogen, wenn ihr Zukünftiger etwas ansehnlicher und weniger korpulent
beziehungsweise nicht so einfach gestrickt gewesen wäre. Andererseits hatte John
Francis Fitzpatrick, genannt ›Big Fitz‹, Helene Mertens alias Agnes von Sydow keinerlei
Fragen bezüglich ihrer Vergangenheit gestellt. Die Freude über den Fang, der ihm
in einem ›Displaced Persons Camp‹ [35] gelungen war, hatte die Bedenken bei Weitem überwogen, und kaum war der Krieg zu
Ende, hatte Big Fitz sie schon vor den Traualtar gezerrt und nach seiner Entlassung
aus der Armee überredet, mit ihm in die USA zu gehen. Dass der elterliche Betrieb
in La Grange / Texas auf dem flachen Land lag, von wo aus es fast 100 Meilen bis zur
nächsten Stadt waren, hatte ihr Johnny-Boy geflissentlich verschwiegen. Darüber,
wie über manches andere, war sie jedoch hinweggekommen. Geld roch nicht, vor allem,
wenn es sich um amerikanische Dollars handelte. Dollars, über die sie nach dem Tod
ihres Mannes vor zwei Monaten frei verfügen konnte.
»So, die
Dame, da wären wir.« ›Dame‹ – wenn du wüsstest!, fuhr es ihr durch den Sinn, bevor
sie ihr Konterfei im Rückspiegel begutachtete und entschied, den Lippenstift vor
dem Aussteigen nachzuziehen. »Macht …«
»Stimmt
so!«, flötete sie in einem Ton, der erfahrungsgemäß dafür sorgte, dass man ihr nicht
widersprach. Dann warf sie einen abermaligen Blick in den Spiegel und nestelte so
lange an der Krempe ihres Charleston-Hutes herum, bis er an der gewünschten Stelle
saß. »Machen Sie sich einen schönen Tag damit.«
Nicht etwa,
dass sie zur Freigebigkeit neigte. Das mit Sicherheit nicht. Zuweilen machte es
ihr jedoch Spaß, die Domestiken, mit denen sie sich umgab, sprachlos zu erleben.
So wie diesen Proleten, der den Mund vor Überraschung nicht mehr zubekam.
Und der
ihr, nachdem sie ausgestiegen war, bestimmt hinterhergaffte. Sie war es gewohnt,
genoss es, legte es darauf an.
Sie mochte
es, wenn ihr die Männer, egal welchen Typs, hinterherschauten, sich an ihrer Figur
weideten. Schwarz, die Farbe ihres Dior-Kostüms, war diesbezüglich von Vorteil,
genau wie die Stöckelschuhe, die sie bei ihrem Zwischenstopp in Paris gekauft hatte.
Adrett auszusehen hieß, dass einem die Türen offenstanden, nur darauf kam es in
dieser Welt an.
»Na, dann
wollen wir mal«, murmelte sie und ließ den Blick über den Platz schweifen, in dessen
Zentrum sich eine parkähnliche Grünfläche befand. Bis auf zwei Häuser, einzige Überbleibsel
der Bombennächte, war nichts mehr so, wie es war. Keine Trambahn, kein Herkules-Denkmal,
keine Mehrfamilienhäuser aus der Gründerzeit. Nichts. Nur noch diese beiden Häuser,
zwei von einem guten Dutzend, dazu reichlich Grün und spielende Kinder. Der Rest,
ihr Elternhaus inbegriffen, wie vom Erdboden verschluckt.
Kurzum:
ein echter Glücksfall.
Wind kam
auf, wehte von Norden über den Landwehrkanal und direkt in ihr Gesicht. Die Bö war
so heftig, dass ihr der Hut vom Kopf gerissen und wie ein Spielball davongeweht
wurde. Nichts war ihr mehr zuwider als das. Nichts peinlicher als die Tatsache,
hinter einem sündhaft teuren Filzhut herzurennen und sich zum Gespött der Passanten
an der nahen Bushaltestelle zu machen.
Schließlich
war sie wer, das heißt, sie war es gewesen. Inzwischen waren jedoch mehr als 17
Jahre vergangen. Eine Zeit, in der sich der Backfisch mit den langen Zöpfen in ein
Phantom verwandelt hatte, in ein Trugbild, eine Schimäre – ein Nichts.
Ein Vorteil,
aus dem es Kapital zu schlagen galt.
Endlich
wieder im Besitz ihres Huts, atmete die von den Passanten begaffte Unbekannte auf.
Das war es, worauf sie hingearbeitet, was sie bewogen hatte, an den Ort ihrer Jugend
zurückzukehren. Sie musste es sehen, spüren, am eigenen Leib erleben. Sie musste
sich vergewissern, dass es keinen Weg zurück mehr gab, keine Spuren, keine Bande,
durch die sie mit der Vergangenheit verknüpft sein würde.
Und niemanden,
der imstande war, sich an sie zu erinnern.
Das Phantom,
welches sich Helen Fitzpatrick nannte, gestattete sich ein vergnügtes Lächeln und
hielt Ausschau nach einem Taxi, das sie zurück ins Hotel bringen sollte. Teil zwei
der geplanten Operation war erfolgreich abgeschlossen, Teil eins, ein Auftritt nach
ihrem Geschmack, nicht minder. Wenn nicht einmal ihr Bruder in der Lage war,
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