Eidernebel
flackert rhythmisch das rötliche Licht der Neonlampen.
»Gott hat in seiner Güte zugelassen, dass die Mütter böse Sachen machen dürfen, ohne dass sie bestraft werden. Doch was ist das für eine göttliche Ordnung, in der man den Sohn aus dem Paradies vertreibt, weil die Mutter Sünden begeht. Das hätte nicht geschehen dürfen. Aber es geschah! Deswegen erwarte ich auch nichts mehr von ihm, ich habe mir die Macht selbst genommen, entscheide selbst, was geschehen wird!«
Ein flackernder Schatten legt sich auf Lisa Blaus Gesicht. Die Klingenspitze berührt ihre Wange, gleitet sanft an ihr herunter, fährt über das Kinn, den Hals hinab, zeichnet die Linie der Operationsnarben nach, um auf der rechten Brust zu verharren. Dann drückt der Mann die Spitze unter die Haut und ritzt eine blutige Linie ins Fleisch. Der Schmerz weitet Lisa Blaus Augen, der Körper bäumt sich vom Sitz auf, bringt den Stuhl aus dem Gleichgewicht, sodass er zur Seite stürzt und mit einem dumpfen Knall auf dem Parkettfußboden aufschlägt.
Mitten in das Geräusch bellt ein Befehl durch den Raum: »Polizei! Lassen Sie die Waffe fallen! Hände hinter den Kopf! Treten Sie zur Seite und legen Sie sich auf den Boden, sofort!«
Der Mann steht wie angewurzelt da, dreht vorsichtig den Kopf, um nach hinten zu sehen.
»Die Waffe weg!«, schreit Swensen, der, ebenso wie Mielke, seine SIG Sauer im Anschlag hält. Der Mann lächelt, breitet zur Beruhigung die Arme aus, um im nächsten Moment mit einem lang gezogenen Schrei, die Hand mit dem Messer in die Höhe zu reißen und auf die Brust der Frau zu zielen. Mit einem lauten Knall gehen die Pistolen von Swensen und Mielke los. An zwei Stellen des rechten Wadenbeins zerplatzt der Stoff der Hose. Blut spritzt zur Seite. Der Mann heult wütend auf. Der Schmerz öffnet seine Finger, das Messer fliegt ihm aus der Hand und die Klinge bohrt sich mit einem vibrierenden Geräusch in den Parkettboden. Mielke ist mit drei Sätzen an seiner Seite, dreht ihm mit einem kräftigen Griff einen Arm auf den Rücken und zwingt ihn zu Boden. Swensen ist sofort neben ihm, schaut dem Angreifer ins Gesicht und sagt trocken: »Er sieht wirklich so aus wie dieses Phantombild!«
Epilog
Das geduckte Reetdachhäuschen steht dicht hinter dem Innendeich, weit ab von den wenigen Hauptstraßen auf Eiderstedt. Auf dem einspurigen Feldweg davor ist vor einer halben Stunde eine ganze Armada von Polizeifahrzeugen eingetroffen. Einige Dienstwagen der Husumer SOKO Kirche sind über den Deich auf die schmale Auffahrt des Anwesens gefahren. Danach waren die Beamten ausgeschwirrt, hatten die Hauseingänge inspiziert und waren daraufhin zu dem Entschluss gekommen, dem mobilen Einsatzkommando das Feld zu überlassen.
Ein breitschultriger Mann tritt jetzt vor eine alte Dielentür im Vorschuppen, der seitlich an das Haus angebaut ist, und versetzt ihr einen kräftigen Fußtritt. Der Riegel springt ohne Widerstand aus dem Schloss. Die Holztür knallt innen an die Bretterwand. Colditz, Swensen und Mielke stehen mit Hollmann ungeduldig nur drei Meter daneben, warten darauf, dass der Zugang ins Haus endlich möglich ist. Der MEK-Mann verschwindet kurz in dem kleinen Schuppen und meldet, dass auch der Seiteneingang ins Haus mit mehreren schweren Ketten verriegelt ist.
»Bringt den Bolzenschneider aus unserem Wagen«, befiehlt der Einsatzleiter.
Zwei Beamte schleppen im Laufschritt eine fast mannshohe Zange heran, einer klemmt ein Kettenglied zwischen den Schneidkopf, presst die langen Griffe zusammen und sprengt das Metall auseinander.
»Die Tür ins Haus ist verschlossen!«
»Machen wir kurzen Prozess, los!«, befiehlt der Einsatzleiter dem Beamten mit der Ramme.
Der Mann tritt an die Haustür und lässt den Eisenklotz mit voller Wucht gegen das Türschloss knallen. Mit einem ächzenden Knarren fliegt auch diese Tür auf.
»Ihr könnt rein!«, verkündet der Einsatzleiter.
Die weißen Gestalten von Hollmanns Spurenteam verschwinden im Gänsemarsch im Inneren. Das sonst so unbewegliche Gesicht von Colditz hat sich in den letzten Tagen sichtbar entspannt. Die große Last, die er fast ein Jahr lang auf seinen Schultern getragen hat, scheint wie weggeblasen. Er klopft Swensen auf die Schulter.
»Ich bin noch gar nicht dazu gekommen, dir richtig zu danken, Jan. Das war eine ausgezeichnete Arbeit. Ich hab schon öfter gehört, dass man dir einen sechsten Sinn nachsagt. Diesmal war es sogar ein siebter, finde ich.«
»Wenn hier
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