Eidernebel
unbedingt für deinen nächsten Anfängerkurs anmelden. Ich hab ihm ein Formular zum Ausfüllen hingelegt und ihm gesagt, er könne gleich mit dir persönlich reden. Du würdest spätestens, wenn meine Stunde zu Ende ist, hier sein. Und jetzt ist er weg.«
»Als … als ich reingekommen bin, war hier keine Menschenseele«, bringt sie mühsam hervor. Sie hat den Eindruck, als hätte eine unsichtbare Hand sie am Hals gepackt und schnüre ihr langsam die Luft ab.
»Merkwürdig«, sagt Harald Lehmann, während er das Formular vom Tisch nimmt. »Er hat die Anmeldung gar nicht ausgefüllt. Dabei machte er den Eindruck, als wäre es ihm wirklich wichtig. So kann man sich täuschen.«
Lisa Blau hört seine Worte, ohne ihren Sinn zu begreifen. Sie sitzt stocksteif auf dem Sofa, hat das unbändige Gefühl, als sei das Schaumstoffpolster aus feinem Sand, der nachgeben und ihren Körper abwärts ziehen könne, bis der Stoff letztendlich über ihrem Kopf zusammenschlagen würde.
»Ist etwas mit dir?«, fragt Harald Lehmann, der bemerkt, dass seine Partnerin kreidebleich geworden ist.
»Nein, es ist nur die Luft. Die ist verbraucht. Ich lüfte gleich durch, bevor die Leute von der Selbsthilfegruppe kommen.«
»Ach ja, heute gibst du ja gar keine Stunde. Das hatte ich gar nicht mehr auf dem Plan. Na ja, dann werde ich mich mal vom Acker machen.«
Er nimmt seinen Mantel von der Garderobe, zieht ihn an und geht mit einem »Bis dann« aus dem Haus. Die Tür fällt ins Schloss und das Klicken dröhnt übernatürlich durch die eingekehrte Stille. Die Tanzlehrerin zwingt sich aufzustehen. Sie geht in den Tanzsaal und kippt beide Fenster. Doch selbst nach mehreren Minuten, obwohl kalte Luft hereinströmt, bleibt sie schlecht. Scheinbar liegt eine feine, oszillierende Schwingung im Raum, die von ihrem Verstand Besitz ergreifen will und eine Gefahr signalisiert, die nicht zu sehen, nicht zu fassen ist, ihr aber trotzdem auf Schritt und Tritt folgt.
Lisa Blau stellt mehrere Stühle zu einem Kreis in der Mitte der Tanzfläche zusammen, hört, wie in ihrem Rücken die Eingangstür aufgestoßen wird. Das Geräusch jagt einen panikartigen Schrecken durch ihre Glieder und sie dreht sich blitzartig herum. Nichts ist zu sehen. Kein Geräusch kommt von drüben. Dann steht wie aus dem Nichts eine dunkle Gestalt zwischen den Türrahmen des Tanzsaals.
»Jürgen!«, ruft sie schrill. »Ich hab dich für einen Moment gar nicht erkannt!«
»’schuldigung! Ich wollte mich nicht anschleichen«, grinst der Mann und nimmt die dicke Wollmütze ab, sodass seine Glatze zum Vorschein kommt. Jürgen Bruns ist einer aus der ersten Stunde ihrer Selbsthilfegruppe für Menschen mit Herztransplantationen. In der nächsten Viertelstunde treffen nach und nach zwei altbekannte Frauen und ein Mann, der erst einmal dabei gewesen ist, ein und besetzen die Stühle im Tanzsaal.
»Erhard, du bist heute das zweite Mal dabei«, beginnt Lisa Blau die Moderation der Gruppe. »Konntest du mit dem, was hier das letzte Mal berichtet wurde, etwas anfangen?«
»Ich habe nach dem Abend ziemlich viel nachgedacht, weil ich vorher immer geglaubt habe, alle halten mich für einen Spinner, wenn ich denen von meinen Veränderungen erzähle. Als ich mich einmal getraut habe, meinem behandelnden Arzt meine eigenartigen Gefühle zu beschreiben, sagte der nur, das wären bloß die Nebenwirkungen der starken Medikamente. Zum Abschied gab er mir den Rat: ›Machen Sie sich deswegen mal keine Gedanken. Treiben Sie einfach ein bisschen Sport, Joggen ist ganz gut.‹ Damit war für ihn die Sache erledigt.«
»Möchtest du uns deine Geschichte erzählen?«, fragt Lisa Blau. »Hier wird niemand solche Sachen sagen.«
»Okay, ich versuche es. Also, bevor ich krank wurde, bevor mein Herz durch eine Herzmuskelerkrankung eine Herzschwäche bekam und ich dauernd massive Herzrhythmusstörungen hatte, war ich ein leidenschaftlicher Schwimmer. Jede Gelegenheit, sich ins Wasser zu stürzen, habe ich genutzt. Nach der Transplantation ist diese Leidenschaft völlig verblasst, selbst jetzt – Jahre später – traue ich mich kaum noch mit den Füßen ins Wasser. Da war plötzlich eine irrationale Furcht, selbst wenn ich von Weitem das Meer gesehen habe. Vor drei Monaten hat mir eine Krankenschwester bei einer Nachuntersuchung unter der Hand verraten, dass ich mein neues Herz von einem Jugendlichen bekommen habe, der im Plattensee in Ungarn ertrunken ist.«
*
Über zwei Stunden hat Stephan
Weitere Kostenlose Bücher