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Eidernebel

Eidernebel

Titel: Eidernebel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wimmer Wilkenloh
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jemand einen sechsten Sinn gehabt hat, dann ist es Lisa Blau gewesen. Ich hätte viel früher auf das hören sollen, was sie Maria Teske erzählt hat. Sie wusste genau, wie unser Mörder aussieht. Wenn wir mit ihrer Phantomzeichnung bundesweit gefahndet hätten, wer weiß. Vielleicht wäre zumindest das letzte Opfer gerettet worden.«
    »Es war nie sicher, dass dieser ungeklärte Mord in Reimerbude wirklich etwas mit unseren Morden zu tun hatte. Er liegt ganze fünf Jahre zurück und der Tathergang wies keinerlei Ähnlichkeit mit den Mordfällen in diesem Jahr auf! Mal ganz ehrlich, so einen unglaublichen Fall wie diesen habe ich in meiner ganzen Laufbahn noch nicht erlebt. Helene Klein war doch bei den Verhören dabei. Hat sie eigentlich eine plausible Erklärung abgegeben, wie das alles zusammenhängt?«
     
    Mit der Frage stürzen die Geschehnisse, die Swensen in den letzten Tagen begleitet haben, erneut über ihn herein. Er sieht sich mit der Profilerin Helene Klein im Verhörraum sitzen. Nach zwei Tagen hatte der Mann mit dem jugendlichen Gesicht endlich zu sprechen begonnen.
    »Eigentlich bin ich immer nur einsam gewesen in meiner Kindheit. Ich konnte nichts tun. Gott hat mich allein gelassen. Meine Mutter … Stiefmutter, die neue Frau von meinem Vater, war der Teufel in Person. Gott hat es erlaubt, dass mein Vater den Teufel in sein heiliges Haus gebracht hat. Da haben alle seine Worte aus der Bibel nichts genutzt. Der Teufel war mächtiger, er hat meinen Vater umbringen lassen. Mutter hat ihn die Himmelstreppe hinabgestoßen. Ich hab das allen gesagt und Mutter hat mich geschlagen, immer wenn sie mich gesehen hat, hat sie mich geschlagen, bis ich ruhig war und niemandem mehr etwas von der Treppe erzählt habe. Ich habe dann ihren Hund umgebracht, ein Messer in ihn hineingestochen und ihn hinter dem Grabstein meines Vaters vergraben. Eigentlich wollte ich Mutter erstechen. Das ging nicht, ich war zu klein. Da wollte ich nur noch wachsen, groß werden und es dann tun.«
    »Und mit Ihrer Frau, sind Sie da auch einsam?«, fragte Helene Klein.
    Die Gesichtszüge des Mannes verändern sich nach der Frage. Der kindliche Ausdruck verschwindet schlagartig, der Mann wirkt plötzlich nachdenklich und erwachsen.
    »Ich fühle mich durch meine Frau bestärkt«, antwortet er nach längerem Schweigen. »In gewisser Weise ist sie eine Art leeres Blatt, das ich jederzeit beschreiben kann und egal, was ich darauf schreibe, es ist immer alles unveränderlich richtig. Meine Frau liebt mich, sagt sie mir immer. Aber meine Liebe ist nicht so, wie bei normalen Menschen. In gewisser Weise existiert sie für mich gar nicht. Ich bin ihr Spiegelbild, das mit ihr Mitleid hat, so wird das Gefühl jedenfalls laut Wörterbuch definiert.«
    »Sie führen eine auf Mitleid beruhende Beziehung, Herr Drenkhahn? Deshalb haben Sie bei der Hochzeit den Namen ihrer Frau angenommen?«
    »Nein, meine Frau ist die einzige Tochter von Thomas Drenkhahn. Das ist einer der mächtigen Namen in Hamburg. Ihr Vater ist der bekannte Reeder. Er hat die Heirat nur zugelassen, wenn der Name seiner Familie erhalten bleibt. Und ich hasste den Namen Schnoor sowieso. Es war der Name, den meine Mutter von meinem Vater gestohlen hatte. Ich wollte ihn nicht mehr hören, wenn man mit mir spricht.«
    »Und weshalb haben Sie Ihre Frau überhaupt geheiratet?«
    »Ein Zuhause ist meine Zuflucht, da bin ich sicher. Wenn ich mit meiner Frau zusammen bin, sehe ich sie nicht … nicht diese Bilder …, wo ich steche … mit dem Messer steche, wo ich Fleisch schlitzen muss und schneiden.«
     
    Das Weshalb seiner Taten hat er nicht wirklich beantwortet, denkt Swensen, und während er nach einer Antwort für Colditz sucht, sieht er Drenkhahns emotionslosen Gesichtsausdruck erneut vor sich. Es ist nicht zu fassen! Der Mann ist intelligent, freundlich, offen, man könnte von sensibel sprechen und er hat sogar Sinn für Humor gezeigt. Gleichzeitig ist er ein soziales Raubtier, das kaltblütig Frauen ermordet hat, nur weil sie Frauen waren, und ich möchte um nichts in der Welt, dass er je wieder frei herumläuft.
     
    »Eine plausible Erklärung für seine Taten kann niemand geben«, versucht der Hauptkommissar sich der Frage von Colditz anzunähern. »Helene glaubt, dass der erste Mord von Reimersbude eine Entladung war, eine nicht geplante Tat. Das Trauma, das Drenkhahn seit seiner Kindheit tief in seiner Psyche mit sich herumgeschleppt hat, seine immer wiederkehrenden

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