Eidernebel
Geräusch holte sie erneut ins Hier.
»Wir machen eine Röntgenaufnahme«, hörte sie Schwester Annegrets freundliche Stimme und sah, wie sie mit zwei weiteren Schwestern ein riesiges Vehikel hereinrollte. Es wurde direkt auf ihr platziert, ohne dass sie es spüren konnte.
»Wir brauchen alle vier Stunden eine Aufnahme, das ist sehr wichtig«, sagte Professor Rollesch, als er die Angst in den Augen der Patientin sah.
In Lisa Blau überschlugen sich ängstliche Fragen.
Ist das neue Herz kräftig genug, wie lange würde es noch schlagen?
Vielleicht stößt mein Körper das Organ ab?
Wenn das Herz gar nicht richtig angenäht ist?
Wissen die Menschen hier wirklich, was sie tun?
Obwohl ihr physisches Siechtum über Nacht einer neuen Beweglichkeit gewichen war, kam sie mit der neuen Situation nicht zurecht. Irgendetwas war anders, weit mehr, als dass sie mit dem Herzen eines anderen Menschen lebte.
Zudem tauchten immer neue Fragen auf, marterten ihren Verstand, ließen sie hinabsinken auf den Grund ihres Daseins, bis nur noch die letzte Frage nach Leben oder Tod übrig blieb. Eine Art Schuld an dem Tod des Menschen, der für sie gestorben war, plagte sie Tag für Tag. Viel zu lange hatte sie gehofft, sich sogar danach gesehnt, dass jemand sterben möge. Sie hatte es gedacht, hatte gar nicht anders denken können, damals. Und dann fragte sie sich, ob es rechtens gewesen war, dass dieser Wunsch sie so erfüllt hatte. Und je häufiger sie versuchte sich davon zu überzeugen, dass es keinerlei Zusammenhang zwischen dem Tod des Spenders und ihrem innigen Flehen nach einem neuen Herzen gegeben haben konnte, desto weniger brachte es ihr eine Entlastung. Es gab Tage, da wünschte sie den Zustand vor ihrer Operation zurück. Sie hatte sich damals bereits so daran gewöhnt gehabt, dass ihre Seele den Kontakt zu ihrem jetzigen Körper endgültig verloren zu haben schien.
Professor Rollesch bewachte sie in dieser Phase wie eine unbezahlbare Kostbarkeit. Er hatte ihr neues Herz in den Händen gehalten, hatte es zum Schlagen gebracht. Manchmal glaubte sie, dass er ein besseres Verhältnis zu ihrem Herzen besaß, als sie selbst.
»Ab und zu glaube ich, ein anderer Mensch ist aus der OP erwacht«, gestand sie dem Arzt ein.
»Frau Blau, da bilden sie sich etwas ein. Es ist alles in Ordnung. Ihre Genesung verläuft nach Plan, alles geht genauso voran, wie wir es erwartet haben. Vielleicht haben Sie ja eine leichte Depression. Es kann sein, dass sie in der Zeit vor der Operation, obwohl Sie in einer lebensbedrohlichen Lage waren, ruhig und gelassen gefühlt haben. Jetzt ist diese Gefahr gebannt, endgültig vorbei. Da beginnt die Psyche oft verrücktzuspielen. Vielleicht kommen jetzt noch mal all die Ängste, die Sie die ganze Zeit nicht zulassen konnten.«
»In mir gibt es eine Stimme, die mir immer wieder sagt, wie undankbar ich bin!«
»Ich verstehe nicht, was Sie meinen, Frau Blau.«
»Jemand hat sein Leben gegeben. Ich möchte mich bei der Familie des Spenders dafür bedanken, Herr Professor!«
»Das ist unmöglich, Frau Blau. Ich rate Ihnen eindringlich, von diesem Wunsch möglichst schnell Abstand zu nehmen. Oder möchten Sie die Büchse der Pandora öffnen, liebe Frau Blau?«
»Die Büchse der Pandora? Ist das nicht ein wenig übertrieben?«
»Ganz und gar nicht! Aus gutem Grund wird die Organspende in Deutschland anonym durchgeführt. Es ist nicht vorhersehbar, wie die Angehörigen des Spenders auf die Situation reagieren würden. Das ist für alle ein gefühlsüberfrachtetes Thema. Ich fürchte Sie überschätzen sich da, Frau Blau. Die Sache ist viel zu brisant, lassen Sie es lieber gut sein!«
»Das heißt, es ist keine Frau gewesen?«
»Das hab ich nicht damit sagen wollen. Man redet im Allgemeinen immer von einem Spender.«
»Also ist es eine Spenderin?«
»In Gottes Namen, Frau Blau, ja, es ist eine Spenderin. Und sie können von Glück reden, dass alles so schnell ging. Das Herz kam nämlich aus dem Klinikum Nordfriesland in Husum. Aber was sage ich hier, ich rede mich noch um Kopf und Kragen. Selbst das dürfen Sie nicht wissen, Frau Blau.«
»Ich hab’s aber gehört, Herr Professor!«
»Vergessen Sie das einfach sofort wieder! Denken Sie lieber an schönere Dinge. Was würden Sie denn gerne tun, wenn Sie den Krankenhausaufenthalt hinter sich haben?«
»Nichts Besonderes, Herr Professor, ganz normale Sachen, die ich früher immer als selbstverständlich angesehen habe. Spazierengehen wäre
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