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Eidernebel

Eidernebel

Titel: Eidernebel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wimmer Wilkenloh
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Geschichten des Schreckens, schrecklicher als ihre eigene Tat, die nicht aus der Welt zu schaffen ist. Die Bilder des Todes, die der Sohn gesehen hat, waren kein Traum, der Himmel hat sich wirklich geöffnet. Aber nicht alles ist benennbar, nicht alles ist erklärbar, sinnhaft. Es gibt den Hass, den Tod, das Böse. Alles Schweigen des Sohnes hat ihn nicht davon befreit. Die Engel sind nie zu ihm herabgestiegen, auf der Himmelsleiter, der Stiege, der Treppe. Nie werden sie zu ihm herabsteigen.
    Schaffe dir deinen eigenen Kosmos, Jakob! Koche das Linsengericht für dein Erstgeburtsrecht, das Recht mutterlos zu sein, ein Sohn ohne Mutter.
    Er will nicht mehr der stille Sohn sein. Es will heraus aus dem Sohn, eruptiv. Die Worte, die es dafür gibt, sind viel zu zahm, viel zu bedacht. Seine Geschichten sind mit Tinte aus Blut geschrieben. Seine Buchstaben sind mit dem Hammer geprägt, mit dem Messer geritzt, auf Menschenhaut verfasst. Der Sohn ist außer Kontrolle, Schreckensmutter. Du bist das stumme Echo des Sohnes, dessen besinnungslose Seele nach Macht giert. Der Sohn wird die Welt impfen gegen dich, den Muttervirus, die Epidemie des vergewaltigten Geistes, den er stoppen muss, um endlich ein freier Sohn zu werden.
     
    *
     
    Es ist schon weit nach 5 Uhr in der Früh, als Stephan Mielke Swensen die kurze Strecke vom Tatort zu Annas Haus hinüberfährt. Der Hauptkommissar hätte sie natürlich auch schnell zu Fuß gehen können, aber er fühlte sich schlecht, war müde und völlig durchgefroren, weshalb er das Angebot des Kollegen ohne zu zögern angenommen hatte. Obwohl vom Team während der Ermittlung vor Ort einige Heizlüfter herbeigeschafft worden waren, blieb die Kirche weiterhin frostig kalt. Um die Ergebnisse des Polizeiarztes nicht zu verfälschen, durften sie erst nach Beendigung seiner Arbeit angeschaltet werden. Swensens Füße waren mit der Zeit zu Eisklumpen geworden. Jetzt breitet sich ein schmerzhaftes Kribbeln in ihnen aus und beim Gang durch den Garten zu Annas Haus hinauf fühlen sie sich bei jedem Schritt völlig taub an. Mit klammen Fingern schließt er die Haustür auf. Die Enge in der Brust hat er mit hierher gebracht. Er hängt den Mantel an die Garderobe, holt sich eine Plastikschüssel aus der Küche und füllt sie im Bad mit heißem Wasser. Nachdem er Schuhe und Socken ausgezogen hat, setzt er sich auf den Badewannenrand und lässt die Füße in die Schüssel gleiten. Augenblicklich stechen tausend Nadeln in seine Haut. Swensen atmet tief aus, während allmählich eine wohlige Wärme den Körper hinaufflutet. Die Bilder der langen Nacht sickern aus seinem Bewusstsein hervor.
    Er sieht die füllige Gestalt von Michael Lade neben der Leiche stehen, sieht wie er in seinem Instrumentenkoffer herumkramt.
    »Wenn ich das hier so sehe, bekomme ich ein verdammt schlechtes Gefühl, Doc«, hört er sich zum Polizeiarzt sagen. »Irgendetwas in mir gibt Alarm. Dieser Mord passt in gar kein Schema, das ich aus meiner gesamten Polizeiarbeit kenne.«
    »Ich verstehe gerade nicht, wovon du redest, Jan«, murmelt Lade leicht abwesend, ohne den Blick von der Toten abzuwenden. »Erwürgt oder erstochen, eins von beiden ist die Todesursache. Näheres wird die Obduktion ergeben.«
    »Das ist alles, was du sagen kannst?«
    »Nun, etwas ist schon ungewöhnlich. Das Mädchen hat keine Wunden an Händen und Unterarmen. Sieht so aus, als wenn sie sich überhaupt nicht gewehrt hat. Wer lässt sich ohne Gegenwehr so zurichten? Wenn du das gemeint hast, fällt das eindeutig aus dem üblichen Schema.«
    »Nein, ich dachte schon eher an den ungewöhnlichen Tatort. Das Mädchen wurde offensichtlich direkt hier ermordet. Da stellt sich die Frage, warum hat der Täter sie ausgerechnet in eine Kirche gebracht? Der wird sich doch etwas dabei gedacht haben!«
    »Ich bin Arzt, Jan, kein Psychologe! Solche Fragen stellen sich mir nicht!«
    »Und wie lange ist sie tot?«
    »Schwierig zu sagen. An den Augenlidern und den kleinen Gelenken hat die Totenstarre begonnen. Aber es ist eiskalt, selbst hier drinnen. Da kann ich aus dem Stehgreif keine genaue Zeit sagen. Zwei bis vier Stunden mit Vorbehalt. Ich messe gleich noch die Raumtemperatur. Bis dahin bleiben eure Heizlüfter aus.«
     
    Irgendwo in der Ferne schnarrt es leise. Swensen starrt auf seine nackten Füße, die eine rötliche Färbung angenommen haben. Er erwacht wie aus einem Traum. Das Geräusch kommt vom seinem Handy, das im Mantel an der Flurgarderobe steckt. Mit

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