Eidernebel
unbedingt irgendwo in weiter Ferne lag.
Dann kam Anfang des Jahres der tragische Unfall ihrer Freundin Hannelore Wulf dazu, die aus unerklärbarem Grund auf der B 5 ins Schleudern geraten war und gegen einen Baum prallte. ›Irreversibler Hirntod‹ stellten die Ärzte fest, nur das Beatmungsgerät hielt ihren Körper am Leben.
Als die Journalistin davon erfuhr, hatte sie völlig die Fassung verloren. Sie bekam eine schmerzhafte Gürtelrose und musste sich das erste Mal während ihrer Berufszeit krankschreiben lassen. Die Beerdigung in Koldenbüttel stürzte Maria Teske in eine unbeschreibliche Trauer. Dann erfuhr sie auf der Trauerfeier auch noch von der Mutter ihrer Freundin, dass die Mediziner sie und ihren Mann immer wieder bedrängt hatten, die Organe ihrer Tochter für eine Organspende freizugeben. Sie fühlten sich durch ihre schnelle Einwilligung schuldig, glaubten, zu früh aufgegeben zu haben.
Letzte Woche hatte Maria Teske die Mutter zufällig am Grab der Tochter getroffen. Sie klagte über entsetzliche Albträume, in denen sie immer wieder ihr Kind über einen Friedhof irren sieht. Am Ende dieser Träume findet sie die Tochter an ein Steinkreuz gelehnt. Als sie ihr die Hand reichen will, sagt diese mit leiser Stimme: »Mutter, du hast mich verlassen.«
Die Geschichte ging der Journalistin nicht mehr aus dem Kopf. Irgendetwas, ganz tief in ihrem Inneren, ließ sie nicht mehr los. Sie begann, neben der täglichen Zeitungsarbeit, über Herztransplantation zu recherchieren, und je länger sie sich mit dem Thema beschäftigte, desto mehr Fragen tauchten auf. Dabei wurde ihr die Transplantationsmedizin höchst suspekt. Die sogenannte Nächstenliebe, die sich die Ärzte auf ihr Banner geschrieben haben, ist nur eine Seite der Medaille, überlegte sie. Mit der anderen stellen sich die selbstlosen Mediziner für ihre Verdienste gerne ins gleißende Rampenlicht.
Aber wäre das alles nicht nur ein Leben um jeden Preis ?
Macht die Angst vor der eigenen Sterblichkeit uns alle nicht nur viel zu schnell kritiklos?
Maria Teske opferte ihre Freizeit, suchte nach betroffenen Eltern und traf sich mit ihnen.
»Ich fühlte mich völlig unaufgeklärt«, hatte eine Mutter unter Tränen gebeichtet, »ich hatte keine Ahnung von der Tragweite meiner Entscheidung. ›Reiß dich zusammen, du kannst jetzt doch nicht schlapp machen‹, hab ich mir gesagt. ›Du musst jetzt eine Entscheidung treffen.‹ Aber die Gespräche mit diesen Ärzten fühlten sich immer an, als wollten sie mich manipulieren. Sie setzten alles daran, mein Ja zu bekommen. Später stellte sich dann auch noch heraus, dass es bei der Spende nicht nur um ein Organ ging. Mein Sohn wurde in alle Einzelteile zerlegt, sie haben ihm Herz, Nieren, Leber und Augen entnommen. Man hat ihm sogar die Beckenkammknochen aus dem Körper gesägt. Seine Organe sind über ganz Europa verteilt worden. Wenn ich das nur im Geringsten geahnt hätte.«
Herzrasen holt Maria Teske an den Arbeitsplatz zurück. Sie spürt einen Kloß im Hals, Gänsehaut am Oberarm. Für einen kurzen Moment glaubt sie, in Ohnmacht zu fallen.
Jetzt ist es aus, du bekommst einen Herzinfarkt!
»Ist dir nicht gut?«, fragt der Kollege am Nachbartisch.
»Nee, alles in Ordnung! Bin nur kurz weggetreten«, antwortet Maria energisch und wischt sich den Schweiß von der Stirn.
»Fünf vor elf, Think Big hat sich schon in Pose gesetzt«, grinst der Kollege, steht auf und trabt auf das Büro des Chefredakteurs zu. Maria Teske mobilisiert ihre gesamte Willenskraft, um sich vom Drehstuhl zu erheben. Sie ist die Letzte, die in den kleinen Raum stolpert und lässt sich erschöpft auf den freien Platz direkt vor dem Schreibtisch des Chefs nieder. Der bugsiert seinen Drehstuhl, unter Zuhilfenahme seiner Füße, hinter dem Schreibtisch hervor.
»Donald Rumsfeld hat gerade bekannt gegeben, dass große Teile der US-Truppen bereit für einen Krieg im Irak sind«, beginnt er die Themensitzung. »Hat dpa gerade gemeldet. Laut Washington Post will die USA nach dem Sieg die Kontrolle über das Land übernehmen. Schätze, für die Kieler Zentrale wird das der morgige Aufmacher werden. Also, ich wünsche jetzt vergleichbar starke Themen von euch. Ich höre!«
»Ich finde wir sollten uns unbedingt die Rekordarbeitslosenzahlen vornehmen. Im Januar waren immerhin 4,6 Millionen Menschen ohne Arbeit. Wie wäre es mit einem Zustandsbericht aus der Region?«, meldet Kay Müller das erste Thema an.
»Klingt nach
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