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Eiertanz: Roman (German Edition)

Eiertanz: Roman (German Edition)

Titel: Eiertanz: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Brendler
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Gänsehautreihe so einfach, dabei wusste jeder, dass das Erforschen jeden Winkels des Mundes leicht mit Sabbern, Erstickungsanfällen und anderen Überraschungen einherging. Nach dem ersten Verklammerungs-Desaster im Alter von dreizehn hatte ich gedacht, alles würde besser, sobald ich nur meine Zahnspange los wäre. Aber auch die nächsten Erlebnisse hatten keine Freudenfeuer in mir entzündet. Dabei hatten wir geübt, Julia und ich. Mit Orangenhälften. So intensiv, dass meine Mutter sich Sorgen machte, ich könnte einen Vitamin-C-Schock bekommen wegen meiner plötzlichen Vorliebe für Südfrüchte. Bald fanden wir heraus, dass Orangen nur etwas für Anfänger waren. Die echte Herausforderung waren Grapefruits. Weil die Haut, die ihre Fruchtkammern teilte, härter war als die Fruchthaut von Orangen. Und wegen der Säure. Wer eine Grapefruithälfte knutschen konnte, ohne zu sabbern, war eine Königin des Küssens.
    Anscheinend übten die Jungen weniger. Oder mit den falschen Früchten. Bei meinen weiteren Versuchen stieß ich auf wilde Freestyle-Züngler, die anscheinend mit Melonen geübt hatten, oder Übervorsichtige, spezialisiert auf Backpflaumen. Außerdem gab es die blinden Draufgänger, nach deren Ansturm man entweder in die Gesichtschirurgie oder zum Zahnarzt musste, die übereifrigen Forscher, die in der Tiefe des Halses nach versunkenen Schätzen suchten. Die Schlimmsten waren die Phlegmatiker, die ihre Zunge dem anderen Mund anvertrauten und dann die Verantwortung abgaben. In der neunten Klasse verbrachte ich etliche Mathestunden damit, eine Statistik über die verschiedenen Kussarten und Küsser anzufertigen. Eine Statistik, die mir der Lehrer kurz vor ihrer Vollendung abnahm. Er war ein Backpflaumenküsser, ich sah es an seinen Lippen, und es passte zu ihm und seinem verkniffenen Mund, dass er mir die Statistik nie zurückgab. Meine Hypothese, dass aus Kuss-Phlegmatikern Ehemänner wurden, die auf dem heimischen Sofa herumdümpelten, antriebslos wie ihre Zunge, konnte ich nie überprüfen. Unter meinen Küssern der vergangenen fünfzehn Jahre waren viele Phlegmatiker gewesen. Wenig Wilde. Ein einziger Könner. Ausgerechnet ein Musikwissenschaftler. Er spielte Trompete, übte jeden Tag drei Stunden und betrachtete das Küssen als zusätzliches Training der Lippen- und Zungenmuskulatur. Wir trainierten die gesamte Probewoche des Unichors im durchgelegenen unteren Bett der Jugendherberge Hürth, und seine muskulösen Lippen umschlossen meinen Mund, meine hingebungsvoll geöffneten, vielleicht zu wehrlosen Lippen. Nur wenig später hatte er eine geeignetere Sparringspartnerin gefunden, eine spitzmündige Oboistin, und ich hatte mich gefragt, ob ich das Blockflötenspiel vielleicht zu früh aufgegeben hatte. Wie würde Mirkos Kuss sein? Während ich gedankenverloren in der Pfanne rührte, ab und zu Bier zugab, wie Franzi es befohlen hatte, stellte ich mir Mirkos Lippen vor, weich und vollendet geformt, wie sie mit meinen Lippen verschmolzen, stellte mir vor, wie er meine Schultern küsste, die Arme … oh mein Gott. Erstmals betrachtete ich meine Arme genauer. Und schließlich, unter Hexenschuss-Schmerzen, auch meine Schultern. Ich würde Kerzenlicht brauchen. Viel Kerzenlicht. Und ein phantastisches Make-up. Am besten am ganzen Körper. Plötzlich war die Zeit viel zu knapp. Hektisch wühlte ich im Sperrmüll nach Kerzen, in der Hoffnung, wenigstens eine zu finden, auf der nicht der Papst abgebildet war, duschte, versprühte an strategisch wichtigen Stellen Parfüm, rieb mich mit allen vorgeschlagenen Lotions ein, nahm Aspirin gegen den Hexenschuss und trug schließlich am gesamten Körper Bräunungscreme auf. Was sich als äußerst schmierige und den Juckreiz ins Unerträgliche steigernde Angelegenheit entpuppte, also wischte ich vorsichtig eine Schicht wieder ab, ließ mich beim anschließenden sorgfältigen Gesichts-Make-up von Piccos Geschrei nicht beeindrucken.
    Bis ich den Grund seiner Schreie und warnenden Pfiffe roch. Die Poulardenschenkel klebten am Pfannenboden. Das Bier war verdunstet, und die ganze Küche stank nach Kneipe. Vor Aufregung hatte Picco einen grünen Klacks auf dem Schneidebrettchen hinterlassen, auf dem meine angeschnittene Zwiebel lag. Und wer wusste, wo noch. Die Kartoffeln, aus denen ich nach Franzis Rezept einen bayrischen Bier-Kartoffelsalat hatte machen wollen, waren zu Kartoffelbrei zerfallen. Nur die Schokolade war im Topf zuverlässig geschmolzen. Ich goss die Pampe über

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