Eiertanz: Roman (German Edition)
weiteres Blütenblatt ab. Was die Margerite gefasst hinnahm. Sie sah aus, als hätte sie die Phasen des Nichtwahrhabenwollens, des Zorns, des Verhandelns und der Depression längst hinter sich und befände sich mitten in der Phase des friedlichen Akzeptierens.
Wie still es am See war. Wie sehr ich mich schon an diese Stille gewöhnt hatte. Wie viel man ihr ablauschen konnte: das fragende Flüstern des Windes, die säuselnde Antwort der Bäume, das schnatternde Aufschrecken einer Ente aus einem Traum von Mr.-Erpel-Right. Andere Enten antworteten, eine flog auf, ließ sich auf dem Bootssteg nieder. Etwas näherte sich spritzend. Einen Moment dachte ich an eine bayrische Version des Ungeheuers von Loch Ness. Aber was die Fluten mit gewaltigen Schlägen teilte, schwamm in einem perfekten Kraulstil. Wenn es ein Riesenkrake war, dann eine Spezies mit nur zwei Tentakeln. Er schwamm quer zum Ufer, am Steg vorbei, auf dem die aufgeregte Ente saß, näherte sich zügig dem dünnen Sandstreifen. Die Haare schüttelnd, entstieg er dem Wasser. Er hatte kein Handtuch bei sich. Er trug eine altmodische Badehose mit kurzen Beinen. Und hatte eine beachtlich gute Figur, um die ihn Dreißigjährige vermutlich beneideten. Eine Weile standen wir einander gegenüber, schweigend. Hartl triefte. Musterte mich und die Margerite.
»No? Kummer?«
Vermutlich wusste er längst Bescheid über das Abendessen, die Kondome und den Brad Pitt, der in meinem Schlafzimmer ruhte.
»Alles supi«, sagte ich. »Alles perfekt. Ich kann nur nicht schlafen.«
»So? No.« Er hörte nicht auf, mich zu betrachten, forschend, fragend. Dabei hätte ich zu fragen gehabt. Was er mitten in der Nacht im See suchte, zum Beispiel. Aber ich fragte nicht. Es war ja sein See. Gewissermaßen.
»Nimms ned schwer, Madl, weißt, Kummer oder Freud, ois geht eh vorbei.«
Er sah mich ernst an, streckte den Arm aus und legte seine nasse Hand auf meine Kappe aus Silberpailletten, als wollte er mich segnen. Dann drehte er sich um und verschwand über den Uferstreifen.
9.
A m nächsten Morgen fuhr ich Mirko in die Kreisstadt, zum Bahnhof. Vor Probenbeginn im Fernsehstudio war ein Interviewtermin angesetzt, von dem er am Vortag nichts gesagt und ich auch nichts gewusst hatte. Plötzlich hatte er es eilig, wollte keinen Instant-Latte, keine aufgebackenen Brötchen. Was angesichts des gestrigen Abendessens und des Zustands der Küche, samt eines kriegerischen, zum Äußersten entschlossenen Vogels, kein großes Wunder war. Auf dem Bahnsteig versprach ich ihm, mit Christiane über alles zu reden.
»Ich weiß, dass sie auf dich hört, Special Agent. Sie hält so viel von dir. Man könnte fast eifersüchtig werden.«
Er legte einen Arm um meine Schultern, ohne mich zu küssen.
»Schön war’s. Ich denk an dich.«
»Ich dich auch.«
Noch zehn Minuten später, als der Zug längst abgefahren war, glühte mein Gesicht röter als das Signallämpchen über dem Gleis. Mirko hatte galant so getan, als bemerke er meinen Versprecher nicht, der genau genommen kein Versprecher, sondern eine astreine Freudsche Fehlleistung war. Wie aus dem Lehrbuch meines Pflichtseminars in Psychologie. In dem Seminar war es um Freudsche Fehlleistungen im Gerichtssaal gegangen: Ein Zeuge oder der Angeklagte versprach sich und sagte aus Versehen, was sein Unbewusstes wirklich von der Sache hielt.
Mein Unbewusstes war sogar noch einen Schritt weiter, brachte mich nicht nur dazu, peinliche Wahrheiten aus Versehen auszusprechen, es antwortete sogar auf niemals geäußerte Liebeserklärungen.
»Bei Gina war alles wie bei ihren Geschwistern«, sagte meine Mutter gern, wenn es um Kinderkrankheiten, die Schmerzen bei der Geburt oder Schulprobleme ging, »nur schlimmer.« Warum wunderte ich mich, dass auch mein Unbewusstes schlimmer war als das anderer Leute?
Zerknirscht fuhr ich zurück zum Haus. Vor dem wieder aufgeschichteten Stapel aus Stühlen, Lampenschirmen, Dekofiguren und Kisten kniete jemand. Von hinten sah ich nur ein schwarzes Kleid und dünne, kunstvoll gelockte Haare.
Die alte Frau, die ich von der Nail-Art-Metzgerei kannte, kniete auf einem Kissen, schwenkte etwas hin und her – ein Kruzifix, sah ich im Näherkommen –, mit dem anderen Arm ruderte sie in der Luft herum, rang offensichtlich um ihr Gleichgewicht. Überall um sie herum flackerten Kerzen.
»Mei, Burgl, bist narrisch, willst das Haus anzünden?« Vom Café her eilte Therese mit energischen Schritten auf die alte Frau zu, und
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