Eifel-Krieg
Ich hatte ehrlich gestanden von diesen Szenarien die Nase voll: Es ist mitten in der Nacht, der Raum ist kalt, du frierst, kein Mensch ist da, und du wirst auch keinen antreffen in diesem ganzen Haus. Du fühlst dich dem Penner verbunden, der morgens im Eingangsbereich eines LIDL erwacht und nicht recht weiß, was er jetzt tun soll. Außer auf den Menschen zu warten, der ihm einen Euro schenkt, damit das Leben weitergehen kann.
Ich wusste aus Erfahrung, dass ich unter diesen Umständen auf keinen Fall versuchen sollte weiterzuschlafen. Das war mir noch nie gelungen. Ich tat das, was der brave Mann tut: Ich stellte mich unter die lauwarme Dusche. Wenig später saß ich am Schreibtisch und versuchte, so etwas wie eine Bewohnerliste des Eulenhofs anzulegen.
Da war der Chef Ulrich Hahn, dann gab es eine Exfrau in Duisburg, deren Namen ich nicht kannte. Dann Veit Glaubrecht, der mich zusammengeschlagen hatte. Und Blue, der erschossen worden war. Außerdem ein jüngerer Bruder von Ulrich Hahn mit dem Namen Gerhard Wotan Hahn. Dann der Junge, der den katholischen Priester in Gerolstein angebrüllt hatte: Oliver Ebing, siebzehn Jahre.
Das war ein ausgesprochen mageres Ergebnis, wenn ich davon ausging, dass neunzehn Bewohner des Hofs dort ihren ersten Wohnsitz hatten. Weitere vierzehn Bewohner hatten dort ihren zweiten Wohnsitz gemeldet, und über die wussten wir so gut wie nichts, außer dass der Jäger Alfons »Alfie« Marburg aus Trier angeschossen worden war. Tessa hatte einen Schönheitschirurgen mit dem Scherznamen Mollimacher erwähnt, aber ich hatte vergessen, wie er hieß, was nicht gerade für mein Gedächtnis sprach.
Mein Telefon meldete sich so plötzlich, dass ich zusammenzuckte. Der Anrufbeantworter sprang an, Tessa sagte: »Guten Morgen. Entschuldige mein Benehmen, ich bin zurzeit etwas dünnhäutig. Ich muss versuchen, mit dem unklaren Begriff
Kinder
etwas zu unternehmen. Ich werde gegen acht Uhr am Morgen mit dem Kreisjugendamt in den Eulenhof einfallen. Wir haben einige Fragen. Von dem Ergebnis wirst du erfahren. Ich melde mich.«
»Du solltest wenigstens ein paar Stunden schlafen«, sagte ich in die nächtliche Stille. »Aber das ist auf jeden Fall eine gute Idee.«
Ich war das leere Haus leid, ich wollte Bach, ich legte mir eine CD ein. Die Brandenburgischen Konzerte. Damit wurde mein Haus erträglicher, endlich sprach jemand laut und deutlich mit mir: Johann Sebastian, der zu Lebzeiten als Organist und Improvisator weit mehr geschätzt wurde denn als Komponist. Unglaublich, dass er nach seinem Tod für einhundert Jahre in Vergessenheit geriet, ehe die Menschen sich wieder auf ihn besannen. Ich hörte die CD bis zum Ende und wurde ruhig.
Ein Auto kam langsam die Dorfstraße heruntergerollt. Emma. Es war jetzt fast fünf Uhr. Ich ging hinunter und öffnete ihr die Haustür.
»Nur eine Weile«, sagte sie und ging an mir vorbei ins Wohnzimmer.
»Ich habe einen Kaffee, wenn du magst.«
»Ich komme schon klar, danke. Nur eine Weile. Ich verschwinde dann wieder. Lass dich nicht stören. Vielleicht ein Schluck Wasser.«
Ich öffnete eine Wasserflasche und goss ihr ein. Ich stellte das Glas auf den Tisch vor dem Sofa. »Willst du ein bisschen Bach? Leise, damit irgendetwas da ist.«
»Ja, das geht, das ist vielleicht gut. Danke.« Sie fummelte an einer Schachtel mit ihren holländischen Zigarillos herum. »Rodenstock sagt immer, die Dinger stinken, sie versauen einem den Tag. Sagt er immer.«
»Er hat recht«, murmelte ich und holte ihr einen Aschenbecher. »Die Dinger stinken wirklich.«
»Es ist so eine Angewohnheit«, stellte sie fest. »Ich habe kein Feuer.«
»Da liegt ein Feuerzeug, da, neben der Zeitung.«
»Wieso bist du denn schon auf? Oder hattest du dich gar nicht erst hingelegt?«
»Ich kann nicht schlafen, ich denke dauernd an deinen Mann. Aber das weißt du doch.«
Sie zündete sich den Zigarillo an und paffte heftig.
Ich schob die CD in die Anlage und stellte sie leise auf zwei Lautsprecher ein, sodass Bach wie ein weit entferntes Orchester klang.
»Nur eine Weile«, sagte sie noch einmal.
Ich ging hinauf in mein Arbeitszimmer und bewachte sie, damit nichts sie stören konnte. Als ich etwa eine Stunde später nach ihr schaute, schlief sie tief und fest, sie sah blass und erschöpft aus. Sie wurde nicht einmal wach, als ich die Musik abstellte.
Ich fuhr nach Heyroth, um nach Tante Liene zu sehen. Die schlief in dem großen Gästebett und wirkte zufrieden wie ein Kind. Ich
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