Eifel-Ralley
sein. Hat er dir etwas erzählt, Dinah?«
»Wenig«, ihre Stimme war zittrig. »Aber sollten wir das nicht ihm überlassen? Er wird schon etwas sagen, wenn es etwas zu sagen gibt.«
Warum hast du eigentlich gehofft, Baumeister, deiner Vergangenheit zu entgehen, sie einfach begraben zu können? Wer ist so dumm, Baumeister, an diese Möglichkeit zu glauben? Es ist ja schließlich kein furchtbares Geheimnis hinter dieser...
»Es ist kein furchtbares Geheimnis dahinter«, sagte ich laut. »Ich habe zwanghaft gesoffen, ich war krank. Als ich aufhörte, mich auf diese Weise zu töten, mußte ich gehen. Ich kam mit meiner Familie nicht zurecht. Wenn ich wichtige Entscheidungen traf, fragten sie nicht, ob ich das bewältigen könnte, sie fragten automatisch: Säuft er jetzt wieder? Damit habe ich nicht leben können, also bin ich gegangen. Jetzt bin ich es, der nichts mehr mit ihnen zu tun hat. Ich kann gut damit leben.«
»Wieso besucht dein Vater dich nicht? Du bist noch nicht zu alt, also ...« Emmas Gesicht wirkte ganz verkrampft.
»Er ist tot«, sagte ich. »Er starb vor fast zehn Jahren. Eine seiner letzten Erklärungen an mich war die Feststellung: Weißt du, Siggi, ich glaube, du bist sehr krank! Ich habe ihn ganz verblüfft angeschaut. Ich hatte ihm gerade erzählt, daß ich auf einem alten Bauernhof in der Eifel lebe und mich dabei schrecklich wohl fühle. Diese Entscheidung erschien ihm so absurd, daß er dachte, ich sei in die Eifel gegangen, um heimlich weiter zu saufen oder so etwas in der Art. Er kann mich nicht besuchen, er ist tot. Und ich hoffe, er wird tot bleiben. Ich habe zaghaft angefangen, ihn wieder zu lieben. Also sollte er mir mit seinen abstrusen Vermutungen vom Leib bleiben. Wenn das alles ist, was ihr wissen wollt...«
»Was ist mit deiner Mutter?« fragte Emma. »Das ist meine letzte Frage. Ich verspreche das.«
»Du mußt es nicht versprechen. Tja, meine Mutter ... Sie war eine Ärztin, die niemals praktizierte, die immer nur für meinen Vater da war und mit ihm lebte. Die beiden waren für mich wie die Insel der Seligen. Ich habe niemals im Leben eine bessere Partnerschaft erlebt. Aber ich war auch nie im Leben so isoliert wie als Kind. Sie waren wie eine Insel, und sie waren sich selbst genug. Sie brauchten mich nicht. Ich stieß zuweilen an ihre Insel wie eine Art kaputtes Kanu. Natürlich bat ich sie, mich auf diese Insel zu lassen. Sie hörten mich nicht. Sie konnten mich gar nicht hören. Da bin ich weggegangen von zu Hause.« Ich strich die Serviette glatt. »Das ist die ganze Geschichte, und wo steht geschrieben, daß Eltern ihre Kinder und Kinder ihre Eltern lieben müssen? Es ist nur die fade gesellschaftliche Vorstellung, daß es so sein muß. Es muß nicht so sein. Meine Geschichte ist eine stinknormale Geschichte.«
»Ist sie tot?« wollte Emma wissen. »Das gehört noch zu meiner Frage.«
»Ja«, nickte ich. »Sie starb Jahre vor meinem Vater. Einfach so. Sie war wohl müde.«
Paß auf, Baumeister, sie werden sich nicht zurückhalten können, sie werden weiterfragen.
Aber sie fragten nicht weiter, sie waren verlegen und versuchten nicht, es zu verbergen. Wir waren alle froh, als die Wirtin uns einen Brotkorb und Gänseschmalz hinstellte und fröhlich sagte: »Jetzt könnt ihr reinhauen, Leute!«
Dinah legte unter dem Tisch eine Hand auf meinen Oberschenkel und streichelte ihn. »Scheiße!« sagte sie dann wild und trank ihr Glas aus. Sie war todunglücklich, und sie konnte wahrscheinlich nicht sagen, warum. Weil sie dachte, sie hätten mir wehgetan?
»Es ist schon okay«, sagte ich. »Das war eine Sonderausgabe Baumeister, ehe wir zu unseren seltsamen Todesfällen zurückkehren.«
Als wir gingen, schien ein blasser, sichelförmiger Mond an einem hellblauem Abendhimmel.
»Es wird Herbst«, sagte ich. »Jetzt kommt die Zeit, in der die reichen Menschen nach Vermont fliegen, um die bunten Blätter des Herbstes zu sehen. Wenn sie hierherkämen, hätten sie einen kürzeren Weg und sie sähen die gleichen wilden Farben.«
Wir kochten zwei Liter Kaffee, um uns gebührend auf den Deutschitaliener Mario Giocotta vorzubereiten.
Er rauschte mit einem uralten gelben BMW 2002 auf den Hof, der auf den ersten Blick so aussah wie eine schöne bequeme Badewanne.
Als er die Versammlung sah, die auf ihn wartete, war er verunsichert. »Hallo«, murmelte er zögerlich. »Ich sprach mit einer Dame.«
»Das war ich«, sagte Dinah.
»Nehmen Sie Platz«, sagte Rodenstock. »Wir
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