Eifel-Träume
er und wirkte nicht im Geringsten verunsichert. Er goss Kaffee ein und setzte sich auf den noch freien Stuhl neben seinen Vater.
»Sie können anfangen«, sagte der Vater freundlich.
»Mir wäre es lieber, ich bekäme erst einmal zwei Stück Zucker«, sagte ich.
Die Mutter lachte und schob mir die Zuckerdose herüber.
»Gerd, ich will dir ein paar Fragen stellen. Ein paar meiner Fragen werden wahrscheinlich ziemlich naiv sein. Das hat etwas damit zu tun, dass ich keinen Sohn habe, der so alt ist wie du. Und ich will betonen: Wenn du irgendeine Frage nicht beantworten willst, dann sag es einfach. Ich kann das gut verstehen.«
Er nickte. »Das ist schon okay.«
»Lass uns beim Donnerstagmittag anfangen. Du bist alt genug, bei ein paar Lügen nicht mitzumachen, nehme ich an. Du weißt von den Lügen der Mütter?«
»Sicher.« Eine Strähne seines blonden Haares wischte ihm vor den Augen vorbei und er strich sie beiseite.
»Die haben nicht in schlechter Absicht gelogen, sondern um zu verstecken, dass sie eigentlich gar nicht wussten, ob ihre Kinder zu Hause waren oder nicht. Und nun ist herausgekommen, dass Kevin, Anke und Bernard tatsächlich nicht zu Hause waren. Sie sagen, sie haben sich nach der Schule auf ihre Fahrräder geschwungen und sind rumgefahren, wie sie das öfter tun. Ist das so?«
»Korrekt«, sagte er. »Das ist so. Man setzt sich auf die Karre und fährt rum. Manchmal trifft man einen, manchmal isst man ein Eis, fährt zum EDEKA, um was Süßes zu kaufen, oder so. Wenn es langweilig wird, dann fährt man wieder nach Hause. Das ist normal.« Sein Gesicht war ruhig, seine Hände absolut nicht fahrig, seine Augen sehr stet.
»Gut. Anke, Bernard und Kevin sind also unterwegs und fahren rum. Annegret ist schnell zu Hause reingesprungen, hat die Schultasche dagelassen und geht dann hoch zum Busch. Ihre Mutter ist bei ihrer Freundin in der gleichen Straße und bekommt gar nicht mit, dass Annegret nach Hause gekommen ist. Ganz sicher war Annegret mit irgendwem verabredet. Hast du eine Ahnung, wer das gewesen sein könnte?«
»Ehrlich nicht«, sagte er. »Die Kripo hat mich das auch schon gefragt, aber ich habe keine Ahnung.«
»Du hast das beste Alibi«, stellte ich fest. »Du warst mit der kleinen Russin zusammen … Ich weiß gar nicht, wie sie heißt.«
»Nastassia«, sagte er und grinste unbeschwert.
»Natascha!«, verbesserte sein Vater.
»Ach, Papa, wie oft muss ich dir das noch sagen? Nastassia mit Doppel-s.«
»Weißt du noch, wann du wieder zu Hause warst?«
»Ja, klar. Das muss so um halb vier gewesen sein. Um vier war Fußballspielen angesagt. Mama hat geschimpft, weil ich noch keine Schulaufgaben gemacht hatte.«
»Kommen wir jetzt mal auf Annegret zu sprechen. Ich habe den Eindruck, dass deine Eltern sehr liebevoll und wahrscheinlich auch großzügig sind. Wissen sie, dass du in Annegret verliebt warst?«
Beide Eltern hatten ein fast dümmliches Lächeln im Gesicht.
Die Fassade des Sohns bekam Risse, trotzdem antwortete er: »Klar wussten die das. Ich habe es erzählt.«
»Das stimmt«, sagte der Vater leise. »Und ich denke, es hatte ihn schwer erwischt.«
Der Junge senkte im Bruchteil einer Sekunde sein Gesicht, Tränen traten in seine Augen.
»Das wollte ich nicht«, sagte ich hastig.
»So ist das Leben«, meinte der Vater bekümmert. »Manchmal spielt es falsch.« Er legte Gerd den Arm um die Schulter, es war eine leichte, gehauchte Geste des Vertrauens.
Die Mama reichte ihm ein Papiertaschentuch.
»Wir können aufhören, wenn es zu sehr schmerzt«, sagte ich.
»Schon okay«, murmelte der Sohn.
»Annegrets Vater wusste, dass du in sie verliebt warst. Und er mag dich. Das ist vielleicht wichtig für dich zu wissen. Die Mutter von Annegret aber …«
»Sie hat was gegen mich«, unterbrach Gerd trocken. »Sie wollte mich nicht. Ich kam mir vor wie … ja. Sie hat mich mal vor der Schule abgefangen und mir gesagt, ich soll die Finger von Annegret lassen. Annegret wollte mir das nicht glauben.«
»Die Frau hat es schwer«, sagte ich. »Sie hat ihre Tochter verloren.«
»Schon okay«, nickte er.
Ich entschied mich für Offenheit. »Die Mutter ist als Jugendliche missbraucht worden. Das ist erst gestern Abend rausgekommen. Bitte redet mit niemandem darüber. Aber ich denke, das erklärt vielleicht, wieso die Mutter sich so merkwürdig benommen hat. Sie hat nämlich mit einem Fernglas dauernd den Busch beobachtet. Das Fernglas lag auf dem Fensterbrett vom
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