Eifel-Träume
worden.
Es gibt eigentlich nur zwei Orte, an denen ich zur Ruhe komme. Der eine ist der Wald, der andere eine Kirche. Ich führe mit Mutter Catholica eine Dauerfehde, die betrifft aber nicht den Alten Mann da oben. Die betrifft nur sein Bodenpersonal und das, was es in den letzten Dutzend Jahrhunderten angerichtet hat.
Heute zog es mich in die Kirche St. Leodegar in Niederehe. Im Sommer ist sie immer von neun bis achtzehn Uhr zugänglich. Es war kühl im Innern, gut für das Hirn. An den Wänden hingen jahrhundertealte Heiligen- und Seligenfiguren, deren elektronische Sicherung den Ort in eine Hölle aus Lärm verwandeln würde, sobald irgendein gieriger Tourist es wagte, sie auch nur zu berühren. Eine Kirche mit Sirene auf dem Dach.
Fälle, in denen Kinder eine Rolle spielen, machen krank, erzeugen Widerwillen und Hoffnungslosigkeit. Da fragt man sich, was geht in so einem Täter vor? Und es ist möglich, dass sie gar nichts gedacht haben. Und dass sie sich selbst das größte Rätsel sind. So der Fall eines Achtzehnjährigen, der erst seinen siebzehnjährigen Bruder mit einem Kleinkalibergewehr erschießt und dann vor dem Bett der Eltern steht und dem Vater in den Mund feuert. Von den Spezialisten gefragt, was er sich dabei gedacht habe, antwortet er: »Ich weiß es nicht.« Nicht ein Mal zuvor war er durch Jähzorn oder Brutalität aufgefallen.
Ein Mord passiert, weil er eben passiert? Gibt es einen Fall ohne den Hauch einer Motivation? Gibt es.
Der Fall des Vaters, der erst seine Kinder im Alter von ein und drei Jahren aufhängt und sich anschließend selbst richtet, hat etwas von grandioser Trostlosigkeit. Nicht zu reden von der vollkommen erschütterten Mutter, die nach Hause kommt und das Bild ein Leben lang ertragen muss.
Vollkommen irrational der Vater, der zusammen mit zwei kleinen Kindern von der fünfzig Meter hohen Kylltalbrücke springt.
Schier unglaublich der Zwanzigjährige, der seine vierzehnjährige Freundin tötet, nicht erwischt wird, sogar ins Ausland flieht. Und der eines Nachts zurückkommt, auf dem Bauch robbend wie ein Bundeswehrler sich dem Grab nähert, um dann festgenommen zu werden. Noch unglaublicher, dass Mörderjäger damit gerechnet haben. Sie warteten tatsächlich einfach auf dem Friedhof. Gefragt, wie sie denn auf diese beinahe abstruse Idee gekommen sind, antworten sie: Das können wir nicht begründen.
Lieber Alter Mann, du könntest schon ein wenig den Vorhang lüften und zumindest die Möglichkeit einräumen, menschliches Verhalten zu erklären. Es wäre hilfreich, etwas zu begreifen, denn Nichtbegreifen macht uns stumm.
Ich setzte mich in die erste Bank und fragte mich, wie viele Bittgebete von hier aus schon in die Höhe geschickt worden waren, ob man sie zählen konnte. Die Eifel ist ein frommes Land.
Alter Mann da oben, warum hast du das zugelassen? Warum begeht ein Mensch den absoluten Tabubruch und tötet ein Kind? Weil er selbst keine Kindheit hatte?
Die Dutroux-Urteile sind gesprochen und nicht einmal verhallt, als ein Mann gefasst wird, dem man neun Morde nachsagt, der einige von ihnen schon gestanden hat. Ein Biedermann namens Michel Fourniret. »Hübsch und möglichst jungfräulich«, hat er der Polizei seine Opfer beschrieben. Jetzt ist er dabei, der Polizei die Stellen zu zeigen, an denen er die geschundenen Körper vergraben hat. Und die europäische Polizei hat einen Schlag ins Gesicht bekommen, denn eigentlich hätte man diesen Mann vor drei Jahren schon fassen können. Eine junge Frau in Belgien hatte eine schwere Belästigung gemeldet, den Mann präzise beschrieben, sein Autokennzeichen der Polizei gegeben. Nichts geschah. Erst eine Dreizehnjährige beendete die Mordserie, weil sie aus seinem Lieferwagen entkommen konnte. Sie fragte ihn, ob er zur Dutroux-Bande gehöre, und er antwortete: Nein, ich bin schlimmer. Hätte es einen automatischen Austausch der Daten von Schwerkriminellen in Europa gegeben, hätte die Mordserie nicht so lange andauern können. Denn in Frankreich kannte man Fourniret sehr genau, dort war er schon mal wegen sexueller Delikte verurteilt worden. Nach seiner Entlassung zog er nach Belgien, wo er polizeilich nicht erfasst war.
Morde an Kindern machen wütend und Wut ist in einer Kirche kein guter Ratgeber. Das Bild der schönen bunten Fenster hinter dem Altar ließ mich etwas ruhiger werden und irgendwann drehte ich mich um zum Schmuckstück dieses Ortes, der Orgel. Balthasar König baute sie im Jahre 1715 und sie leuchtet
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