Eifel-Träume
wir hätten versagt.«
»Ich habe mich immer wieder gewundert, weshalb ihr viele einfache Dinge nicht wusstet. Langsam wird mir klar, warum. Vieles deutet für mich darauf hin, dass Annegret freiwillig hoch in den Busch gelaufen ist. Und da muss jemand gewesen sein, mit dem sie verabredet war. Das kann Kevin gewesen sein oder Anke, aber das kann auch jemand gewesen sein, von dem wir noch gar nichts wissen.«
Frisch gefällte Buchenstämme lagen am Wegrand, Kischkewitz setzte sich auf einen, holte einen seiner Stumpen heraus und zündete ihn an. »Ich bin atemlos von den wenigen Schritten, ich bin in einer beschissenen Verfassung, ich müsste mal was für mich tun. Aber ich weiß nicht, wie.«
»Mach Urlaub«, sagte ich, nur um etwas zu sagen.
»Das geht nicht. Ich muss erst einmal meine Mannschaft beruhigen und wieder einstielen.«
»Und Rodenstock? Hält der seine Drohung mit der Anzeige gegen diesen Klemm aufrecht?«
»Ja. Das ist gar nicht mal das Schlechteste, denn auf diese Weise bekomme ich vielleicht im Ministerium Gehör. Es heißt zwar verächtlich, Rodenstock sei längst pensioniert, aber sie wissen ganz genau, dass es Stunk geben wird, wenn die Öffentlichkeit von dem ganzen Mist erfährt.« Er lachte leise. »Immerhin habe ich den Pensionär Rodenstock auf meiner Seite. Zwei von meinen Männern waren schon echt irritiert. Klemm hat den Eindruck hinterlassen, dass er schneller und vor allem effizienter ist als ich. Nun muss ich vorsichtig taktieren, bis auch der Letzte kapiert hat, dass Klemms Art der Erledigung eines Falles Misserfolg bedeutet. Ich bin vollkommen verkrampft. Scheiß neue Welt.«
Ich hockte mich neben ihn. »Du hast vor ein paar Tagen einen Fall Binningen erwähnt. Erzählst du mir davon, damit ich mitreden kann?«
Er schloss die Augen und nickte. »Binningen war ein in jeder Beziehung klassischer Fall. Mit Pannen, Unstimmigkeiten, Angriffen auf die Kripo, es gab schlicht alles, was es eigentlich nicht hätte geben dürfen. Sehr vieles im Fall Annegret erinnert an Binningen.
Der Fall nahm in der Adventszeit 1987 seinen Anfang, präzise am 14. Dezember, also zehn Tage vor Weihnachten. Eine junge Frau aus Binningen fuhr mit ihren beiden Kindern, Tanja und Marco, in die Kreisstadt Cochem. Tanja war elf Jahre alt, ihr Bruder sechs. Die Mutter wollte mit Marco zu einem Kinderarzt. Sie standen auf dem Marktplatz in dem ziemlich regen Weihnachtsrummel und Tanja sagte plötzlich: Ich will noch ein Weihnachtsgeschenk für Marco kaufen. Die Mutter hatte nichts dagegen einzuwenden. Das Mädchen galt als schon recht erwachsen, weil sie sich für den kleinen Marco nicht nur zuständig, sondern auch verantwortlich fühlte. Mit der Bemerkung, sie sei in einer Viertelstunde wieder da, verschwand die Kleine in der Menge. Die Mutter und Marco warteten und wurden schließlich unruhig, als Tanja nicht zurückkehrte. Tanja sollte nie wieder zurückkehren.
Der Fall hatte von Beginn an eine außerordentliche Bedeutung, weil es um ein junges Mädchen ging, weil die öffentliche Stimmung angeheizt war und weil niemand die geringste Ahnung hatte, wohin Tanja verschwunden sein konnte.
Die Sonderkommission, die gebildet wurde, bestand aus fünfundzwanzig Beamten. Für damalige Verhältnisse ungewöhnlich viel Personal. Der Landrat setzte sofort dreitausend Mark Belohnung aus, die Staatsanwaltschaft zog nach und stellte ebenfalls dreitausend Mark zur Verfügung, als Belohnung für Hinweise, die zur Ermittlung des Täters führten. Das Ergebnis war gleich null.
Ich nenne dir den Beginn der Lösung, damit ich nicht zu weit ausufere. Genau einhundertacht Tage nach ihrem spurlosen Verschwinden wird Tanja hinter der Reichsburg Cochem in einem alten Gartenhäuschen gefunden. Erdrosselt. Zwei Spaziergänger waren aufmerksam geworden, weil in dem Gartenhäuschen eine Fensterscheibe zertrümmert war. Sie sahen hinein und entdeckten das Mädchen.
Die Gegend ist katholisch, streng katholisch. Tanja wurde ausgerechnet an einem Karfreitag gefunden, einem Tag, der in katholischen Gegenden voller Leidens Symbolik ist. Und es kam noch etwas Bitteres hinzu: An dem Tag, an dem sie gefunden wurde, hätte sie ihren zwölften Geburtstag gefeiert.
In fieberhafter Eile wurden Informationsblätter für die Bevölkerung gedruckt. Pfarrer verteilten diese Blätter an die Gläubigen an den Kirchenausgängen. Die Pfarrer baten sogar von den Kanzeln herunter um die Hilfe der Leute bei der Aufklärung des Falls.
In einhundertacht
Weitere Kostenlose Bücher