Eifelheiler (German Edition)
wendete ihren Rollstuhl. »Kommen Sie mit.«
Charlotte stand ebenfalls auf und warf Stephan ein dankbares Lächeln
zu. Sie folgten der alten Frau ins Haus.
Zehn Minuten lang musterte Stephan die Treppe, ging einmal rauf und
wieder runter, rüttelte dabei am Geländer und klopfte die Stufen mit den Füßen
ab. Er konnte nichts Auffälliges erkennen. Die Stufen waren aus massivem Holz,
an den Kanten leicht abgetreten, der Handlauf wurde von gedrechselten Stäben
gehalten. An der Wand zog sich die Schiene eines Treppenaufzuges nach oben, und
am Fuß der Treppe lag ein breiter Teppich.
»Nichts«, fasste er zusammen und wischte sich mit dem Ärmel seines
T-Shirts über die Stirn. »Keine Stufe lose, nirgends steht etwas hervor.«
Selbst der Läufer, der sich über die Mitte der Stufen zog und einem
grünen Wasserfall glich, war fachmännisch befestigt und bot an keiner Stelle
eine Stolperfalle. Der Treppenaufzug störte nicht, wenn man hoch- oder
runterwollte.
»Die Schlafzimmer sind oben.« Elfriede Germanus setzte sich auf den
Sitz des Aufzuges und ließ sich nach oben fahren. Oben angekommen, wechselte
sie in einen anderen bereitstehenden Rollstuhl und deutete auf eine Tür. »Öffne
bitte«, bat sie Charlotte.
Die Sonne schien hell durch das Fenster in Friedrich Germanus’
Schlafzimmer. Der Parkettboden glänzte. Es roch nach frischer Bettwäsche. An
den Wänden klebten bordeauxfarbene Textiltapeten, die so neu wirkten, als ob
die Handwerker gerade erst zur Tür herausgegangen wären.
»Sie schlafen nicht hier?«, fragte Stephan, als er das schmale Bett
sah.
Elfriede Germanus prüfte gerade mit der Kuppe ihres Zeigefingers die
Sauberkeit der Biedermeierkommode, neben der sie mit ihrem Rollstuhl stand.
»Nein, ich schlafe zwei Zimmer weiter.« Offensichtlich war sie zufrieden, denn
sie legte die Hände in ihrem Schoß zusammen. »Wissen Sie, Friedrich litt unter
Rhonchopathie. Oder sagen wir eher, ich litt darunter.« Sie lächelte traurig.
Stephan runzelte verständnislos die Stirn.
Charlotte, die hinter dem Rollstuhl stand und die Griffe festhielt,
erläuterte: »Friedrich schnarchte.«
»Ja, fürchterlich«, bestätigte Elfriede Germanus. »Selbst in meinem
Zimmer hat man ihn noch gehört.«
Stephan nickte und zeigte auf das Nachtschränkchen. »Ich darf doch?«
»Selbstverständlich. Sie sind von mir zu allem befugt, was dienlich
sein könnte.«
Er zog die oberste Schublade auf. Ein Krimi lag griffbereit. »Edgar
Noske: Im Dunkel der Eifel«, las er. Das Lesezeichen, ein schlichter roter
Pappstreifen, steckte auf Seite zehn. Neben dem Buch lag eine Taschenuhr,
darunter ein kleines Fotoalbum. Stephan nahm es heraus und blätterte darin. Die
Innenseiten wurden durch Pergamin, auch Spinnenpapier genannt, getrennt. Es
fühlte sich spröde an. Seite für Seite blickten ihm unbekannte Menschen
entgegen.
»Unsere Kinder, Freunde und so weiter«, erklärte Elfriede Germanus.
»Menschen, die uns was bedeuten. Bei mir stehen die Bilder eingerahmt auf dem
Schminktisch. Friedrich zog Alben …« Sie stockte und bedeutete Charlotte, sie
etwas näher heranzuschieben. »Da stimmt was nicht«, stellte sie fest. »Blättern
Sie bitte mal eine Seite zurück.«
Stephan kam der Aufforderung nach. Links klebte das Porträt eines
urwüchsig aussehenden Mannes. Das Alter schätzte Stephan auf fünfzig. Rechts
lag lose das Bild einer hübschen schwarzhaarigen Frau.
Elfriede Germanus starrte schweigend auf das Album. Ihre Augen
sprangen von links nach rechts.
Stephan sah zu Charlotte, die nur hilflos mit den Schultern zuckte.
»Der Mann oder die Frau?«, fragte er. »Wer passt nicht?«
Elfriede Germanus zuckte zusammen. »Wie bitte?« Sie schien ganz in
Gedanken gewesen zu sein.
»Der Mann oder die Frau?«, wiederholte Stephan. »Wer erregt Ihre
Aufmerksamkeit?«
»Ach so, ja, das meinen Sie.« Sie tippte auf den Mann. »Das ist Karl
Liebknecht, der Gärtner. Aber die Frau, hm, die kenne ich nicht.«
Stephan drehte das Album ein wenig, sodass er besser hineinschauen
konnte. »Sind Sie sicher?«
»Absolut«, bestätigte sie ernst, »das Gesicht habe ich noch nie
gesehen.«
Er hielt das Album so, dass Charlotte das Foto betrachten konnte,
und sah sie fragend an, doch Charlotte schüttelte den Kopf. »Ich kenne viele,
aber auch nicht alle. Wer weiß, ob die überhaupt hier in der Nähe wohnt.«
»Hm, ja, klar«, murmelte Stephan und wandte sich wieder an Elfriede
Germanus. »Sicherlich haben Sie nichts dagegen,
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