Eifler Zorn
hochgebunden und die Augenlider mit
geliehenen Münzen beschwert. Er hat sich neben seiner Schwester auf einen Stuhl
gesetzt, den Rosenkranz in den Händen, und versucht zu beten. Es konnte ihm
keinen Trost schenken. Die Mutter am Tisch ist wach, aber ihr leer geweinter
Blick und die tiefen Ringe unter den Augen zeigen ihm, dass sie die ganze Nacht
kein Auge zugetan hat.
»Aufmachen!«,
poltert es erneut von draußen. Die Mutter reagiert nicht. Paul steht auf,
achtet nicht auf die Steifheit seiner Arme und Beine und öffnet. Vor ihm stehen
ein Mann und zwei Frauen. In dem Mann erkennt er erst auf den zweiten Blick den
Arzt, mit dem er vorgestern gesprochen hat und der nun hier ist, um seiner
Pflicht nachzukommen. Eine der Frauen trägt, wie das junge Mädchen vorgestern,
eine weiße gesteifte Haube, Schürze und Kragen. Eine Krankenschwester. Die
andere umklammert ein Bündel Papier und betritt mit deutlichem Abstand zum Arzt
und der Schwester das Zimmer. Mit einem Blick erfasst sie den Raum, kräuselt
die Lippen und notiert, ohne ein einziges Wort zu sagen, etwas in den Papieren.
Die Strenge ihrer Kleidung macht Paul misstrauisch. Grauer Loden, weißer Blusenstoff.
Einzig eine Kamee mit dem Abbild des Heiligen Christophorus bringt ein wenig
Farbe in ihr Äußeres.
»Wer sind
Sie?« Endlich kommt Bewegung in die Mutter. Müde erhebt sie sich, aber ihre
Augen und ihr Tonfall wirken hellwach.
»Man hat
uns informiert, dass hier ein Diphtherie-Fall aufgetreten ist.«
»Wer sagt
das?«, fragt sie und macht einen Schritt auf den Arzt zu. Der wendet sich um
und sieht Paul an.
»Ihr
Sohn.« Dann bemerkt er die reglose Gestalt im Bett dahinter. Mit wenigen
Schritten eilt er zu Emma und verharrt, bevor er knappe Anweisungen an die
Schwester bellt. »Es muss alles sofort desinfiziert werden. Veranlassen Sie die
umgehende Räumung der Wohnung. Was ist mit den anderen Kindern?«
»Sie
fiebern bereits.« Die Schwester hat die Kleinen aus dem Bett gehoben und vor
sich auf den Boden gestellt. Verschlafen blinzeln sie und wollen zur Mutter.
»Nehmen
Sie sie mit. Beide. Und rufen Sie den Bestatter. Er soll sich beeilen«,
befiehlt der Arzt, während er sich über Emma beugt und eine rasche Totenschau
durchführt.
»Nein!«,
ruft Pauls Mutter. »Nein!« Sie umklammert ihren schwangeren Bauch. »Sie können
mir meine Kinder nicht wegnehmen.«
»Wenn sie
wieder gesund sind, dürfen Sie sie wieder mit nach Hause nehmen, gute Frau«,
versucht die Krankenschwester die Mutter zu trösten und legt ihr eine Hand auf
die Schulter. Die Mutter schüttelt sich, streift die Hand ab wie ein lästiges
Insekt. Die Verzweiflung in ihren Augen wechselt zu Wut.
»Warst du
das?«, zischt sie Paul an, der erschrocken zurückweicht. »Siehst du, was
geschieht?« Sie gibt ihm eine Ohrfeige. »Du bist gegen meinen Willen zu ihnen
gegangen. Jetzt nehmen sie uns alles.« Mit ihren Fäusten trommelt sie auf Pauls
Arme und Brust. »Es ist deine Schuld!«
»Es
reicht«, mischt sich die andere Frau ein, die das Geschehen bisher stumm
beobachtet und sich immer weiter Notizen gemacht hat. Sie stellt sich zwischen
Paul und seine Mutter, packt sie an den Unterarmen und zwingt sie aufzuhören.
Dann faltet sie die Papiere und steckt sie in ihre Handtasche. »Ihr Sohn hat
recht gehandelt. Die Verhältnisse hier sind ja nicht zu verantworten.« Sie
nickt Paul zu. »Pack deine Sachen. Wir werden dich untersuchen und dafür
sorgen, dass du eine anständige Erziehung erhältst.«
»Ich will
nicht weg von hier!«
»Es
interessiert niemanden, was du willst. Widersprich mir nicht. Wenn du nichts
einpacken willst, auch gut.« Sie umfasst seinen Ellenbogen und schiebt ihn zur
Tür.
»Mama!«
Paul befreit sich aus ihrem Griff und dreht sich zu seiner Mutter um. »Sag
etwas! Hilf mir! Sag ihnen, dass ich arbeite. Dass ich Geld für die Familie
verdiene. Dass du mich brauchst! Mama!« Er wartet. Hofft. Doch die Mutter
weicht seinem Blick aus, tritt an Emmas Totenlager und kniet davor nieder. Paul
spürt wieder die Hand der Frau an seinem Arm. Während sie ihn wegzieht, beginnt
die Mutter zu beten. Leise. Monoton. Und ohne sich ein weiteres Mal nach Paul
umzusehen.
***
Judith hatte für die
Strecke von Bonn in die Eifel deutlich weniger Zeit gebraucht als Sauerbier
gestern, auch wenn sie einen Umweg fahren und ihn in seinem Haus in Schleiden
abholen musste. Sie wollte früh am Fundort sein, um sich noch einmal umzusehen,
bevor die Spurensicherung wieder alles freigab
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