Eifler Zorn
noch
mindestens drei Tage krank«, erwiderte er in sehr sachlichem Ton. »Solange
wirst du es hier mit mir aushalten müssen, Mä–« Er unterbrach sich und setzte
in salbungsvollem Ton neu an. »Judith.« Er musterte sie von oben bis unten.
»Und nein, ich glaube nicht, dass du keine Ahnung hast. Immerhin hast du mit
Ina Weinz zusammengearbeitet. Aber trotzdem«, er zwirbelte seinen Schnurrbart,
»solltest du dich nicht zu weit aus dem Fenster lehnen und gut aufpassen. Es
gibt noch eine Menge für dich zu lernen, bis du meine Nachfolge antrittst.«
Judith versuchte zu
begreifen, was er da gesagt hatte, kam aber nicht weit, weil ihr Telefon
klingelte. Es war Ina.
»Ein weiterer Leichenfund.
Ihr müsst kommen. Sofort«, sagte sie, nannte eine Adresse und unterbrach die
Verbindung.
***
Sandra hielt unverändert
ihre Dienstmütze in der rechten Hand, die andere hatte sie vor den Mund
geschlagen. Sie stand vollkommen steif da, rührte sich keinen Millimeter. Sie
schrie nicht, und sie weinte nicht. Ich steckte mein Handy wieder ein. Dann
legte ich ihr eine Hand auf die Schulter und zwang sie, mich anzusehen.
»Ich bringe dich zum Auto.
Dort bleibst du, bis der Arzt eintrifft.«
Sandra verharrte. Sie
zitterte stumm. Ihre Nasenflügel bebten bei jedem Atemzug. Ich zog behutsam an
ihrem Arm, und sie stolperte mir nach, weiterhin über die Schulter nach hinten
schauend, als ob ihr Blick fest mit dem verwachsen wäre, was da auf dem Boden
lag. Ein Wimmern, hoch in ihrer Kehle. Sie schien es nicht zu hören. Ihre Haut
fühlte sich an wie Eis. Ich öffnete die Beifahrertür, schob sie auf den Sitz
und beugte mich über sie, um den Zündschlüssel abzuziehen und an meine
Wasserflasche zu gelangen. Sie ließ alles geschehen.
Bleib professionell, behalte
den Überblick, du hilfst ihr nicht, wenn du zu emotional reagierst, dachte ich
in ständiger Wiederholung der Sätze, obwohl meine Knie zitterten und ich Mühe
hatte, mich zu konzentrieren. Ich drehte den Verschluss von der Flasche und
hielt sie ihr hin. »Trink.«
Wie in Trance griff Sandra
danach.
»Trink!«, forderte ich sie
erneut auf. Sie hob die Flasche an den Mund und leerte sie. Von der Seite sah
ich, dass ihre Lippen aufgesprungen waren und sich Falten tief in ihre Haut
gegraben hatten. Ihr Profil zeichnete sich wie ein Scherenschnitt vor dem
Hintergrund ab, hart und kantig. Ein dunkler Schatten lag unter ihrem Auge.
Heute Morgen hatte ich sie und Luisa zu Hause abgeholt, zusammen waren wir nach
Schleiden gefahren und hatten die Mädchen an der Schule abgeliefert. Zwei
Mütter auf dem Weg zur Arbeit, übergangsloser Rollenwechsel. Auf dem Rücksitz
das Geplänkel der Teenies, Henrike immer noch wütend über die Unverschämtheit
der Mitschülerin und die Uneinsichtigkeit der Direktorin, Luisa still. Massen
dunkler Wimperntusche unterstrichen ihre Blässe, die unter der Make-up- und
Puderschicht zu erahnen war. Sandra hatte auf dem Beifahrersitz eine Hand nach
hinten zu ihrer Tochter gestreckt, den Kontakt gesucht und eine
Zusammengehörigkeit vermittelt, um die ich mit Henrike erst noch würde kämpfen
müssen.
»Alles wird gut«, hatte sie
mit einer weichen, warmen Stimme gesagt, die ich noch nie an ihr gehört hatte.
»Alles wird gut.« Und Luisa hatte sie angesehen, die Augen geschlossen und
genickt.
»Du brauchst echt keine
Angst mehr vor der zu haben.« Henrikes Zuspruch hatte Luisa ein Lächeln und ein
geflüstertes »Danke« entlockt.
»Arno«, murmelte Sandra
jetzt, »Arno.« Ich ging neben ihr in die Hocke, strich über ihren Arm und
suchte nach Worten, in der Gewissheit, dass alles, was ich sagte, falsch sein
würde. »Die Hände der Leiche fehlen«, bemerkte sie in beinahe sachlichem Ton.
»Da ist eine Kopfwunde, die den Tod verursacht haben könnte. Das Blut ist an
den Rändern schon eingetrocknet, es muss also ein wenig her sein.« Sie sah mich
mit leeren Augen an. »Hast du den Arzt schon informiert?«
»Ja. Unterwegs. Und die
Mordkommission auch.« Ich ging zum Kofferraum, um die Decke, die wir immer
dabeihatten, herauszunehmen und ihr um die Schultern zu legen, aber Sandra hob
abwehrend die Hand. Sie klappte das Handschuhfach auf und kramte die kleine
Kamera hervor, dann schälte sie sich aus dem Sitz.
»Wir müssen Fotos machen.«
»Sandra!«
»So wie es aussieht, ist das
Opfer in die Grube gefallen. Schau nur, wie verdreht die Beine liegen.«
»Sandra, nicht.«
»Was ist? Wenn die Kollegen
vom K 11 eintreffen, muss die Arbeit getan
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