Eifler Zorn
umfallen. Wir dürfen nichts sagen, nichts wollen.«
Paul
mustert ihn. Nichts an Ludwig passt zusammen. Er überragt ihn um einen halben
Kopf und scheint nur aus Armen und Beinen zu bestehen, deren Enden aus zu klein
gewordener Kleidung ragen.
»Hier ist
es genauso. Nur noch schlimmer.« Er streicht sich von hinten über seine Haare
und lässt die Hand auf der Stirn ruhen. Sein blondes Haar widersetzt sich mit
einer Vielzahl von Wirbeln dem kurzen Schnitt, den hier alle tragen und den
Paul, wie ihm der Meister bereits angekündigt hat, am Samstag, wenn der Barbier
des Ortes wie jede Woche herkommen wird, ebenfalls bekommt.
»Was ist
nun mit diesem Paul?«
»Er ist
im Dunkeln an der Nachtwache vorbeigeschlichen und muss dann über den Zaun
geklettert sein. Sie haben ein Stück Stoff gefunden, das oben an einer der
Spitzen hing und das von seiner Hose stammte.« Ludwig hat sich entschieden. Für
Paul.
»Wo
willst du hin, wenn du wegläufst?« Paul denkt an seine Mutter. Würde sie ihn
willkommen heißen? Oder ihn wieder fortschicken? Hier kann er ein Handwerk lernen
und als geachteter Mann nach Elberfeld zurückkehren. Dann wird die Mutter stolz
auf ihn sein.
»Zu den
Männern.« Ludwig lacht leise. »Zuerst natürlich nach Kall. Zum Bahnhof. Und
dort in den ersten Zug, der in Richtung Heimat geht. Sie brauchen mich da.«
Paul
beugt sich über sein Werkstück und reißt die Zapfeneinteilung an. Für jeden
Zapfen legt er das Maß neu auf, so wie sein Meister, Löhbach, es ihnen erklärt
hat. »Ich weiß nicht, wo ich hingehen sollte.«
»Meine
Herren!« Löhbach ist von seinem Schreibtisch am Kopfende des Werksaales
aufgestanden und nickt dem Direktor zu, der vor wenigen Sekunden die Werkstatt
betrat und nun mit dem Lächeln einer satten Katze neben ihm steht. »Der
verlorene Sohn ist heimgekehrt. Bitte kommen Sie alle mit, um ihn gebührend zu
empfangen.«
Die
Jungen werden in den Speisesaal geführt und stellen sich in zwei Reihen
hintereinander an den Wänden auf. Dicht an dicht gedrängt, reglos, stumm.
»Was
geschieht hier?«, will Paul wissen, aber Ludwig presst die Lippen zusammen,
schüttelt den Kopf und rückt ein Stück von ihm ab. Paul schaut sich um. Noch
nie hat er einen solchen Raum betreten, noch nie solche Möbel, Lampen und
Zierrat aus der Nähe bewundern dürfen. Die Pracht fasziniert ihn. Der Saal
erstreckt sich über die Hälfte des Hauses, vier Fenster zeigen zur Straße. Ein
langer dunkler Esstisch füllt die Mitte, umrahmt von Stühlen, deren
gedrechselte Rückenlehnen an eine Rittertafel erinnern. Über dem Tisch hängt
ein Kronleuchter aus Kristall, dessen Licht sich in dem großen Spiegel an der
Stirnseite des Raums widerspiegelt und die Oberfläche zum Glänzen bringt. Paul
spürt die Kante der Holzvertäfelung in seinem Rücken, streicht behutsam darüber
und ist erstaunt, wie glatt sie sich anfühlt. Schräg gegenüber der
zweiflügeligen Eingangstür, über der die Köpfe erlegter Hirsche und
Wildschweine mit toten schwarzen Augen wachen, öffnet sich eine kleinere Tür,
und der Direktor betritt den Saal. Hinter ihm stolpert ein Junge herein. Einer
der Meister krallt seine Hand fest in den Kragen seines zerrissenen Hemdes,
unter dessen Schmutz das Abzeichen des Heims nur noch undeutlich zu erkennen
ist. Blutspuren ziehen sich über Stirn und Wangen des Jungen, tiefe Kratzer
zerfurchen seine Hände. In den Haaren hängen kleine Äste und Kletten.
Hinter dem
ungleichen Paar betreten zwei Frauen den Raum. In der einen erkennt Paul die
Frau des Direktors, die er bisher nur auf dem Foto im Treppenhaus zu den
Schlafkammern gesehen hat. Die jüngere trägt ihre Dienstmädchenkleidung trotz
ihres gesenkten Kopfes mit einer stolzen Haltung und erinnert Paul an Emma.
Eine ältere Emma, die es nie geben wird. Er kämpft gegen die Tränen. Obwohl ihr
Haar zu einem Knoten zusammengebunden ist, kräuseln sich einige Strähnen an der
Seite ihres Halses. Schwester. Und mehr als das. Er würde gern die Hand
ausstrecken, um ihre Haare zu berühren, als er bemerkt, dass Ludwig hörbar Luft
holt. Er reißt sich vom Anblick des Mädchens los. Ludwig steht wie
festgenagelt. Mit roten Wangen beobachtet er jeden Schritt des Mädchens.
»Wer ist
das?«, fragt Paul und ist sich sicher, dass Ludwig weiß, wen er meint.
»Frieda
Koch. Sie ist Mädchen bei der Frau Direktor«, presst er hervor.
»Kennst
du sie?«
Ludwigs
Wangen gleichen Feuermalen, als er den Kopf schüttelt.
»Also
kennst du sie.« Ein
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