Eifler Zorn
unbehagliches, stechendes Gefühl breitet sich in ihm aus.
Ludwig hat ihm etwas voraus. »Gut?«
»Hör zu«,
zischt Ludwig, »wir dürfen keinen Kontakt mit Mädchen haben und nicht mit den
Dorfbewohnern. Friedas Eltern wohnen nicht weit von hier in Olef.«
»Was
würde geschehen, wenn sie es rausbekommen?«, will Paul wissen, wird aber von
einem knallenden Geräusch unterbrochen. Er fährt zusammen. Dann schneidet die
Stimme des Direktors durch die Stille, die nach dem Knall eingetreten ist.
»Dieser
Knabe hier«, ruft er und zeigt mit einem dünnen Stock auf den Unglücklichen,
»Paul Osterholz, hat vergessen, wie gut wir es mit ihm meinen, und ist seinen
kriminellen Instinkten gefolgt. Er ist weggelaufen, hat gestohlen und
betrogen.« Er hält inne, tritt hinter den Jungen und legt ihm eine Hand auf die
Schulter. »Wir wollen ihm helfen, sich daran zu erinnern, den rechten Weg nicht
mehr zu verlassen.« Er gibt einigen älteren Zöglingen ein Zeichen und macht
einen Schritt zurück, während die Jungen Paul Osterholz unter den Armen packen,
ihn zur Stirnseite des Tisches bringen und seinen Oberkörper auf die Platte
drücken. Nachdem sie seine Fußgelenke mit Stricken an den Tischbeinen
festgebunden haben, stellen sie sich links und rechts des Tisches auf,
ergreifen seine Hände und ziehen seine Arme auseinander. So bleiben sie stehen.
Außer
einem kurzen Stöhnen des Jungen ist im Saal kein Ton zu hören. Paul scheint es,
als ob alle den Atem anhalten. Sekunden verrinnen. Dann hebt der Direktor den
Arm. Etwas flirrt durch die Luft, ein Peitschen ertönt, und der Junge windet
sich in seinen Fesseln. Paul blinzelt, zuckt mit jedem Schlag, der folgt,
zusammen, bemüht sich wegzuschauen. Er zählt nicht mit, wie viele Schläge es
sind, hört das Ächzen und die Anstrengung des Direktors und das leise Wimmern
des Jungen auch dann noch, als die Strafe beendet ist und sie leise den Saal
verlassen und in die Werkstatt zurückkehren.
»Das
würde geschehen«, murmelt Ludwig und greift wieder nach seiner Feile.
***
»Die Damen. Wieder im
Lande?«, tönte Sauerbier hinter dem improvisierten Schreibtisch seines
improvisierten Büros in der Schleidener Wache. Als er vor zwei Jahren Steffen
des Mordes an einem Professor verdächtigt hatte, war ich ihm hier zum ersten
Mal begegnet. Der Garderobenständer mit seinem beigefarbenen Mantel, von dem
ich sicher war, dass es immer noch dasselbe Exemplar war, vor ihm die
sorgfältig gestapelten Akten und die Wasserflasche auf der Fensterbank – alles
war genau wie damals, als ob er immer hier residieren würde. Und tatsächlich
liebte er es, wenn er in Schleiden arbeiten konnte und nicht jeden Morgen nach
Bonn ins Polizeipräsidium fahren musste – das hatte er mir damals selbst gesagt
und sich augenzwinkernd als »Gastarbeiter im eigenen Heimatdorf« bezeichnet.
Die einzige Veränderung war ein zweiter Schreibtisch, Judiths Schreibtisch,
der, in die äußerste Ecke gedrängt, wie eine Strafbank für Schüler wirkte. Wenn
diese äußere Ordnung Sauerbiers innere Einstellung zu Judith spiegelte, konnte
ich ihr Problem gut verstehen. »›Kurz im Ort‹ scheint ja ein dehnbarer Begriff
zu sein«, fügte er hinzu.
»Wir waren bei einer Zeugin,
die in dem Mordfall von heute Morgen …«, setzte Judith an, aber Sauerbier
unterbrach sie gleich wieder.
»Dieser Mordfall liegt in
meinem Arbeitsbereich. Der tote Junge ist deiner. Saubere Aufgabenteilung, bis
die Verstärkung aus Bonn anrückt, was, wie ich hoffe, bald der Fall sein wird.
Bis dahin machst du deine Hausaufgaben und ich meine.«
»Horst, bei beiden Leichen
waren die Hände abgetrennt, da muss es doch einen Zusammenhang geben.« Judith
knallte ihren Rucksack in die Ecke.
»Sagt wer?«
»Sage ich.«
»Hat sie dich schon
aufgewiegelt?« Sauerbier schnaubte verächtlich in meine Richtung. »›Muss es
doch einen Zusammenhang geben‹«, äffte er sie nach. »Es muss gar nichts. Es
muss nur ordentlich gearbeitet werden. Du selbst hast mir die Ergebnisse der
Rechtsmedizin unterbreitet. Wenn ich mich recht erinnere, hieß es, dass die
Leiche des Jungen wahrscheinlich schon Jahre dort liegt. Arno Kobler ist
gestern noch quietschvergnügt durch Gemünd gelaufen. Was bitte soll es da für
einen Zusammenhang geben?«
Ich hielt den Atem an. Das
hier war Judiths Terrain. Sie musste es selbst verteidigen.
»Solange wir das eine nicht
beweisen können, dürfen wir das andere nicht von der Hand weisen, nur weil es
uns
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