Eifler Zorn
hatte?
Ich musste mit ihr sprechen.
»Das heißt, du brauchst
jetzt jemanden, der sich mit der Geschichte des Ortes auskennt und der dir mehr
Details über das Haus erzählen kann«, unterbrach Hermann meine Gedanken.
»Kennst du jemanden?«
»Vielleicht. Lass mir ein wenig
Zeit. Ich sag dir Bescheid, sobald ich was weiß.«
***
Sie hockte am Ufer der
Urft und stellte sich vor, wie es wäre, zu ertrinken. Wie das Wasser ihren Mund
füllte und ihr den Atem abschnitt. Wie sie das Bewusstsein verlieren und ins
Vergessen sinken könnte. Die glitzernden Spitzen der Wellen würden ihren Geist
und ihre Erinnerung mit sich nehmen und ihr Körper auf den Grund sacken. Es ist
einfach und schwer zu gleichen Teilen, dachte sie und fragte sich gleichzeitig,
ob ihr Körper um das Leben kämpfen würde, das ihre Seele nicht mehr haben
wollte.
Die Träume waren
zurückgekommen. Schleichend. Aus dem Hinterhalt. Als sie nicht mehr damit
gerechnet hatte, hatten sie sie geweckt und doch nicht wach werden lassen. Sie
war gefangen in ihrem Schweiß, voller Angst und Panik, es geschähe wieder und
wieder und wieder. Er hatte sie gestreichelt. Danach. Als ob sie Vertraute
wären. Wie zum Dank. Sie spürte noch immer seine Fingerspitzen auf der nackten
Haut ihres Bauches. An der Rechten hatten der Mittel- und der Ringfinger
gefehlt. Breite Stümpfe, die Enden zusammengeschnürt, knapp über dem Gelenk.
Sie hatten sich bewegt, diese Stümpfe, und sie mit ihren Narben berührt.
Schlechte Hände.
Die Feuchtigkeit aus dem
Gras, auf dem sie saß, zog durch den Stoff ihrer Jeans, aber sie spürte sie
nicht. Jemand, der mich aushält, dachte sie, der mich ganz fest hält. Der bei
mir bleibt. So jemand könnte die Träume vertreiben. Als er in die Diskothek
gekommen war, hatte sie geglaubt, ihn gefunden zu haben, den einen. War bereit
gewesen, alles zu tun, damit er bei ihr blieb. Aber er hatte ihr Schmerzen
zugefügt, sie geschlagen. Mit seinen Händen. Schlechte Hände. Sie stand auf,
wischte sich das Gras von der Hose und wollte zum Weg zurückgehen, als sie auf
dem glatten Untergrund ausrutschte und auf den Rücken fiel. Ein stechender
Schmerz auf Höhe der unteren Rippen raubte ihr den Atem. Sie schnappte nach
Luft.
»Kann ich Ihnen helfen?« Ein
junges Mädchen beugte sich über sie. »Haben Sie sich verletzt?« Bianca
schüttelte den Kopf.
»Danke. Ich brauche keine
Hilfe.« Sie versuchte sich aufzurichten, aber der Schmerz zuckte durch ihre
Seite, und sie schrie auf.
»Sind Sie sicher? Soll ich
nicht lieber einen Krankenwagen anrufen?« Das Mädchen kramte in ihrer Tasche
und hielt ihr Handy mit einem fragenden Blick in ihre Richtung.
»Ich glaube nicht, dass was
gebrochen ist«, murmelte sie und hob die Hand. Möglicherweise wurde es ja
besser.
»Ich warte mit Ihnen, bis es
wieder geht«, sagte das Mädchen und steckte das Telefon wieder in die Tasche. »Es
sah übel aus, wie Sie gefallen sind.«
»Das ist nett von dir.«
Sie schwiegen.
»Wie heißen Sie?«,
unterbrach das Mädchen schließlich die Stille.
Sie räusperte sich.
»Bianca.«
»Henrike.« Sie hockte sich
neben Bianca, umschlang ihre Beine mit beiden Armen und schaukelte behutsam vor
und zurück. Bianca betrachtete sie. Schwarze, enge Hosen, ein weites Sweatshirt
mit einem Aufdruck vorne, von dem Bianca nur die weißen Ränder erkennen konnte,
eine Masse dunkler Haare wie ein Vorhang vor einer Hälfte des Gesichtes,
dazwischen baumelten lange, filigrane Metallohrringe. Die Verletzlichkeit in
den Zügen des Mädchens erinnerte Bianca an ihre eigene. Hier war eine, die so
war wie sie.
»Was machst du hier?«
»Ich habe eine Freundin
besucht.« Ihre Miene verdüsterte sich, und sie drehte sich zu der Straße um,
als ob sie einen Verfolger erwarten würde.
»Es ist nett von dir, dass
du bei mir bleibst.«
»Bis es Ihnen besser geht.«
Sie musterte sie. »Sie sollten nicht so lange auf dem nassen Boden liegen.«
»Ja.« Bianca winkelte den
rechten Ellbogen an und stützte sich unsicher darauf. Der Schmerz in ihrer
linken Seite kam wieder, hatte aber die Schärfe verloren, war auszuhalten.
»Habt ihr Hausaufgaben gemacht?«, fragte sie, um das Gespräch nicht abreißen zu
lassen. Stille konnte sie jetzt nicht ertragen.
»Nein. Wir haben geredet.«
Henrike veränderte ihre Position, stand auf und streckte die Beine.
»Über was?« Small Talk
funktionierte anders.
»Geht es Ihnen besser?«
Henrike schaute wieder über die Schulter nach hinten.
»Es geht. Wie
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