Eigentlich bin ich eine Traumfrau
herfallen, oder? Vorsichtig schleiche ich ihm hinterher. Plötzlich bleibt er stehen und legt sich einen Finger auf den Mund. Ich folge der stummen Aufforderung und verhalte mich ganz still. Mit zwei Fingern deutet er langsame Schrittbewegungen an und zeigt dann auf einen Baum. Misstrauisch betrachte ich dessen Ãste. Sitzt da irgendwo ein plüschiger Gepard oder eine noch plüschigere Vogelspinne? Ich kann nichts Verdächtiges ausmachen. Was sollâs, denke ich, schlieÃlich habe ich mir Abenteuer gewünscht. Ganz langsam mache
ich ein paar Schritte auf den Baum zu. Als ich fast unter ihm stehe, kreische ich kurz auf vor Schreck: Ein Wirbelwind handtellergroÃer, weiÃer Schmetterlinge löst sich von der Rinde und umkreist mich. Juan lacht, und ich stimme erleichtert und glücklich mit ein. Ich fühle mich wie eine Waldelfenkönigin inmitten ihres Volkes.
Solange das Leben noch so viel Schönheit bereithält, und man auch noch in der Lage ist, sie zu sehen, kann es nicht so schlimm werden. Man muss nur loslassen, und schon geschehen Zeichen und Wunder.
Juan und ich verlassen den Wald wieder, setzen uns auf eine Pyramidentreppe und quatschen. Wo unser Englisch nicht ausreicht, versuchen wir es mit den drei anderen Sprachen: Deutsch, Spanisch und Händisch. Ich kaufe uns zum Dank für den schönen Nachmittag zwei Dosen Cola. Die bekommt man offenbar überall, sogar am Rande der Zivilisation. Ãberall laufen Jungs in kurzen Hosen und kleine Mädchen in weiÃen, bestickten Kleidern herum, die wie luftige Nachthemden aussehen. Sie verkaufen Taschentücher, Kaugummis und mehr oder weniger kalte Getränke. Den unwiderstehlichen Blick aus groÃen Augen haben sie wirklich perfektioniert. Am Ende besitze ich â neben der Cola â drei Stofftaschentücher und fünf Packungen Kaugummi.
»Was willst du mit dem ganzen Kram?«, fragt Juan und lacht.
Die Taschentücher schenke ich meiner Mutter zu Weihnachten. Die sind schlieÃlich handbestickt und damit sicher nach ihrem Geschmack.
Juan will wissen, was ich hier überhaupt mache. Sonst führe er hauptsächlich alte Leute und Familien herum. Tja,
denke ich, wer jung und cool ist und nicht gerade an Liebeskummer leidet, unternimmt wohl alles auf eigene Faust mit dem Spanisch-Wörterbuch im Rucksack. Ich liefere ihm eine verkürzte Fassung der Ereignisse: »Beziehungsprobleme, Auszeit.«
Ein älterer Verkäufer hält uns geschnitzte und bemalte Götzen vor die Nase. Einen kleinen will ich unbedingt haben, als Erinnerung an diesen Tag.
»Welchen soll ich nehmen, den hier?«, frage ich Juan.
Am Ende lasse ich es doch bleiben, weil ich weder will, dass mich ein Schutzgott für Selbstmörder vom Nachttisch aus betrachtet, noch, dass mir ein Fledermausgott, der Menschen den Kopf abbeiÃt, Angst einjagt.
Die zwei Stunden mit Juan vergehen viel zu schnell. Findet er wohl auch. Spontan lädt er mich ein, mit ihm Mérida zu besichtigen, die Stadt, in der er studiert, »und abends gibt es noch eine kleine Party. Ich habe gleich frei, ich kann dich mitnehmen. Ich muss nur kurz die anderen einsammeln und sicher zum Bus zurückbringen.«
Ohne lange zu überlegen sage ich zu. Ich habe keine Ahnung, wo Mérida liegt oder wie ich von dort wieder nach Cancún komme, Klamotten zum Wechseln habe ich auch nicht dabei, aber alles, was da auf mich warten mag, scheint mir verlockender, als wieder im Hotel zu sitzen. Eines gilt es allerdings noch zu klären: »Aber, äh, Juan, ich bin nicht so eine â¦Â«
Gott, ist das peinlich. Ich will aber nicht, dass er mich womöglich mitnimmt, weil er sich eine kurze Affäre mit einer Touristin erhofft, die bald wieder abreist. Ich möchte ihn rein freundschaftlich begleiten.
Verblüfft sieht er mich an, dann lacht er schallend. Das finde ich nun auch nicht eben schmeichelhaft. Womöglich bin ich in den Augen dieses unwesentlich jüngeren, attraktiven Studenten eine alte, frustrierte Schachtel, und er sieht seine Einladung als die gute Tat des Tages.
»Ich bin mir ganz sicher, mein Freund hat auch nichts dagegen, wenn du kommst. Du kannst sogar bei uns schlafen.« Dann verschwindet er, um die Gruppe zusammenzusuchen.
Er ist also schwul. Das kann doch gar nicht sein, überlege ich mir. Mexikaner sind doch katholisch. Dürfen die das überhaupt? Na egal, eigentlich finde ich es ganz lässig, mir
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