Eighteen Moons - Eine grenzenlose Liebe (German Edition)
laufen. Ich dachte an Lena. Ich lief schneller. Ich dachte an meine Mutter und an Amma und an Tante Prue und an Marian. Ich rannte, bis ich keine Luft mehr bekam, bis die Feuerwehrautos so weit weg waren, dass ich nicht einmal mehr ihre Sirenen hörte.
Erst an der Bibliothek hörte ich auf zu laufen. Die Flammen waren zum größten Teil erloschen, dunkler Rauch stieg in den Himmel. Die Asche, die durch die Luft wirbelte, sah aus wie Schnee. Hunderte Bücher, manche schwarz, manche triefend nass, lagen kreuz und quer vor dem Gebäude.
Mehr als die Hälfte des Gebäudes stand noch. Aber das war egal, für mich spielte das keine Rolle. Es würde dort drin nie mehr so riechen wie früher. Meine Mutter, oder besser das, was von ihr in Gatlin zurückgeblieben war, war jetzt endgültig ausgelöscht. Verbrannte Bücher konnte man nicht mehr restaurieren. Man konnte nur neue kaufen. Und deren Seiten hatten die Hände meiner Mutter niemals berührt, nie hatte sie einen Löffel oder einen anderen absurden Gegenstand als Lesezeichen zwischen die Seiten gesteckt.
Heute Nacht war wieder ein Stück von ihr gestorben.
Ich wusste nicht viel von Leonardo da Vinci. Wie hatten die Zeilen in dem Buch gelautet? Vielleicht lernte ich gerade zu leben, vielleicht lernte ich auch gerade zu sterben. Nach dem heutigen Tag war beides möglich. Vielleicht sollte ich auf Emily Dickinson hören und zulassen, dass aus Wahnsinn Sinn würde. Aber vor allem Poe ging mir nicht aus dem Kopf.
Denn ich hatte das Gefühl, dass ich tief in die Dunkelheit hineingeblickt hatte, so tief, wie ein Mensch nur blicken konnte.
Ich zog die grüne Glasscherbe aus meiner Tasche und betrachtete sie, als könnte sie mir sagen, was ich tun musste.
Die Damen des Hauses
25.9.
»Ethan Wate, bringst du mir bitte etwas von dem süßen Tee?«, rief Tante Mercy aus dem Wohnzimmer.
Tante Graces Antwort kam wie aus der Pistole geschossen. »Ethan, bring ihr keinen süßen Tee. Wenn sie noch mehr trinkt, muss sie nur dauernd auf die Toilette.«
»Ethan, hör nicht auf Grace. Sie hat einen Hang zur Gemeinheit, der eine Meile lang und zehn Toiletten breit ist.«
Ich blickte Lena an, die einen leeren Plastikkrug in der Hand hielt. »War das jetzt ein Ja oder ein Nein?«
Amma griff nach dem Krug. »Habt ihr keine Hausaufgaben?«
Lena zog eine Augenbraue hoch und lächelte erleichtert. Seit Tante Prue ins Krankenhaus gekommen war und die Schwestern bei uns wohnten, kam es mir vor, als hätten Lena und ich keinen Augenblick mehr für uns allein gehabt.
Ich nahm sie an der Hand und zog sie aus der Küche.
Bist du bereit für einen kleinen Sprint?
Ich bin bereit .
So schnell wir konnten, flüchteten wir uns in die Diele und versuchten, es bis zur Treppe zu schaffen. Es gelang uns nicht.
Tante Grace saß auf dem Sofa, ihre Finger in den Maschen ihrer Lieblingshäkeldecke verhakt, die aus ungefähr zehn Brauntönen bestand. Damit passte sie ausgezeichnet in unser Wohnzimmer, das jetzt vom Boden bis zur Decke mit Kartons vollgestellt war, die alles das enthielten, was mein Vater und ich auf Geheiß der Schwestern während der letzten Woche aus ihrem Haus hergeschleppt hatten.
Zuerst waren das nur die Dinge gewesen, die unversehrt geblieben waren: ein kupferner Spucknapf, den alle fünf Ehegatten von Tante Prue benutzt (und nie gereinigt) hatten, vier der Sammellöffel mit dem Motiv der Südstaaten samt dem hölzernen Gestell, in dem man sie aufstellen konnte, ein Stapel alter Fotoalben, zwei Stühle, die nicht zusammenpassten, das Rehkitz aus Plastik, das im Vorgarten der Schwestern gestanden hatte, und Hunderte ungeöffneter Mini-Marmeladendöschen, die sie von Millies Breakfast ’n’ Biscuits hatten mitgehen lassen. Aber das reichte ihnen nicht. Deshalb hatten sie uns so lange bearbeitet, bis wir auch noch das zerbrochene Zeug herangekarrt hatten.
Das meiste davon, ob kaputt oder unversehrt, war in den Kartons geblieben, aber leider nicht alles. Tante Grace hatte behauptet, dass etwas Dekoration ihnen dabei helfen würde, ihre »leidvolle Prüfung« besser zu ertragen, daher hatte Amma ihnen erlaubt, ein paar Dinge im Haus aufzustellen. Und deshalb starrten mich jetzt Harlon James I., Harlon James II . und Harlon James III . gleichzeitig aus gläsernen Augen an – alle hatten überlebt dank der, wie es Tante Prue nannte, »hohen Kunst des Ausstopfens«, die in den Südstaaten gepflegt wurde. Was mich aber wirklich aus der Fassung brachte, war der schlafende Harlon
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