Ein abenteuerliches Herz
Himmelskörper und der Pflanzen mußten in einer Zeit verhallen, in der mechanistische Theorien sich mit unerhörter Wucht Bahn brachen. In der Medizin bereitete sich der massive Positivismus vor, aus dessen Hybris heraus ein Chirurg sich rühmte, er habe bei seiner Arbeit noch nie eine Seele erblickt.
Solche Gegensätze innerhalb der Anschauung erwecken den Eindruck, als ob der Geist sich in zwei Flügeln eines Hauses beschäftigte, zwischen denen es keine Türen gibt. Man könnte auch an einen Doppelspiegel denken, dessen Seiten von einer undurchsichtigen Schicht geschieden sind. Immerhin kommen stets wieder Zeiten, die sich der Einheit der Anschauung annähern. Sie kann nie absolut gelingen, denn sowohl das mathematisch-physikalische Weltbild als auch das naturphilosophische der Reichenbach und Fechner sind nur Aspekte des »Innren der Natur«.
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Die Dosis, die zum Rausch führt, kann also minimal sein, wenn die Bereitschaft genügt. Auch in dieser Hinsicht gibt es Sensitive, die besonders anfällig sind. Die Normen, die der Gesetzgeber aufzustellen sich veranlaßt sieht, etwa im Verkehrsrecht, geben nur einen groben Maßstab ab. Er wird immer strenger werden, weil die empirische Welt täglich neue Beweise dafür bringt, daß in Rausch und Technik zwei Mächte zusammenstoßen, die sich ausschließen. Das gilt freilich nicht für die Droge überhaupt. Vielmehr nehmen die Zahl der Mittel und der Umfang ihrer Anwendung ununterbrochen zu. Es mehren sich die Leistungen, bei denen die angemessene Drogierung nicht nur geboten, sondern unumgänglich ist. Das wird zu einer besonderen Wissenschaft.
Die Bereitschaft, die zum Rausch führt, kann so stark werden, daß reine Verhaltensweisen genügen und Mittel sich erübrigen. Das ist vor allem der Askese vorbehalten; ihr enges Verhältnis zur Ekstase ist seit jeher bekannt. Zur Enthaltsamkeit, zum Wachen und Fasten kommt die Einsamkeit, die auch dem Künstler und dem Gelehrten immer wieder Kraft spendet. Das Anfluten von Bildern in der Thebais: Televisionen, die nicht auf Drogen, geschweige denn auf Apparate angewiesen sind.
Der Denker, der Künstler, der gut in Form ist, kennt solche Phasen, in denen neues Licht zuflutet Die Welt beginnt zu sprechen und dem Geist mit quellender Kraft zu antworten. Die Dinge scheinen sich aufzuladen; ihre Schönheit, ihre sinnvolle Ordnung tritt auf eine neue Weise hervor. Dieses In-Form-Sein ist vom physischen Wohlbehagen unabhängig; oft steht es in Gegensatz zu ihm, fast als ob im Zustand der Schwächung die Bilder leichter Zugang fänden als sonst. Allerdings hat schon Reichenbach davor gewarnt, Sensitivität und Krankheit zu verwechseln – doch ist es nicht einfach, hier dem Irrtum zu entgehen. Das zeigt sich besonders bei den Disputen, in denen vom Werk her auf die Psyche des Künstlers geschlossen wird. Es ist kein Zufall, daß gerade unsere Zeit reich an solchen Streitfällen ist Wahrscheinlich gehen nicht nur produktiven Phasen im Leben des Einzelnen, sondern auch dem Stilwandel innerhalb der Kulturen Zustände erhöhter Bereitschaft voraus. Sie zeitigen notwendig eine babylonische Verwirrung sowohl der Formensprache als auch der Sprache überhaupt.
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Jung-Stilling bezeichnet dieBereitschaft als »Ahnungs-Vermögen« und meint damit eine erhöhte Empfänglichkeit, die durch Lebensführung erreicht werden kann. »Endlich aber kann auch ein reiner gottergebener Mensch durch lange Übungen und im Wandel vor Gott in Entzückungen und in den Zustand magnetischen Schlafs gelangen.« Nach ihm »wirkt die Seele im natürlichen Zustand durch das Gehirn und die Nerven, im magnetischen ohne beide«. Erst nach dem Tode gewinnt der Mensch die volle Kraft des hellsehenden Schlafes, da er sich nun ganz vom Körper getrennt hat, und diese Fähigkeit ist weit vollkommener, als sie im Leben erreicht werden kann.
Jung-Stillings mit Ahnungsvermögen Begabte entsprechen ungefähr den Reichenbachschen Hochsensitiven; nach heutigem Sprachgebrauch könnte man sie als äußerst seltene, doch immer wieder auftretende Mutanten auffassen. Das Ahnungsvermögen kann entwickelt werden, muß aber angeboren sein. Damit erklärt Jung-Stilling unter anderem Fälle, in denen warnende Träume oder Erscheinungen nicht dem Bedrohten, sondern einem Dritten zuteil werden, der für ihn die Rolle des Empfängers spielt. Diese Fähigkeit braucht nicht mit ethischer oder geistiger Begabung gekoppelt zu sein; sie kann sowohl in einer dumpfen wie in einer genialen
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