Ein abenteuerliches Herz
Man fühlt: sie sind die Herren der Probleme, mit denen die Zeitgenossen sich beschäftigen. Das Wissen gibt ihnen eine kaum wahrnehmbare Ironie.
Der Fremde ließ seinen Blick wohlwollend und prüfend auf mir ruhen. Er zeigte die aufmerksame Behutsamkeit des Arztes, der den Verband von einem Geschwür abhebt. Dann wiederholte er:
»Sie müssen sich stärken, guter Freund.«
Ich hob das Glas und stürzte den Trank hinab. Ich fühlte ihn feurig, belebend durch meine Adern rinnen und blickte mich freier um. Die Nebel wichen aus meinem Kopf, die Sinne schärften sich. Nur um so wunderlicher kam mir die Begegnung vor. Nichts lag mir von Natur aus ferner, als an Güte zu glauben, und ich beschloß, vor allem auf der Hut zu sein. Wer mich in diesem Zustand ansprach, konnte nur Verdächtiges im Sinn haben. Indessen war ich in einer Lage, in der man nichts zu verlieren hat. Der Unbekannte lächelte.
»Sie glauben vielleicht, daß ich Gedanken lesen kann? Und wenn dem so wäre, warum sollte es Sie erstaunen? Gedankenlesen ist keine Zauberei. Es ist eine Kunst, die rein auf Kombination beruht. Man kann sich in ihr üben, und man treibt sie auf den Jahrmärkten. Lassen Sie sich dadurch nicht beunruhigen. Was wäre einfacher, als zu erraten, daß ein Trinker vor einem leeren Glas erwartet, daß es sich wieder füllt? Nichts ist doch verständlicher. Es gibt ja keinen Gedanken, den nicht eine Triebfeder bewegte – in diesem Fall ist es der Durst. Das ist ein simples Beispiel, doch steigert sich die Einsicht in dem Maße, in dem sie die Kombinationen kennt Sie schließen dann die Köpfe mit dem Hauptschlüssel auf. In diesem Stande gibt es Partien, die man stets gewinnt.«
»Aha, ein Falschspieler. Wahrscheinlich sucht er einen Schlepper, mit dem er die Volte schlagen kann. Der Kerl kommt wie gerufen – jetzt heißt es behutsam sein.«
Und lässig wagte ich mich vor:
»Partien, die man stets gewinnt? Da müßte man wohl dem Gedankenlesen ein wenig nachhelfen.«
»Nachhelfen? Nicht im geringsten. Passen Sie auf.« Und wie ich vermutet hatte, zog der Graue ein Kartenspiel hervor, das er mit geübten Fingern mischte und fächerte:
»Nennen Sie mir drei Karten, wie sie Ihnen einfallen.«
Ich nannte die Pik-Sieben, den Karo-Buben, das Kreuz-As.
»Nun ziehen Sie.«
Und wirklich hatte ich die drei Karten in der genannten Reihenfolge in der Hand. Der Kerl war Gold wert; ich fühlte, daß meine Laune wuchs:
»Sehr gut gemacht. Nur weiß ich nicht, was das mit dem Gedankenlesen zu schaffen hat. Man könnte doch eher sagen, daß ich Ihre Gedanken erraten habe, indem ich die Karten zog.«
Der Graue sah mich belustigt an und kicherte.
»Vorzüglich, ich sah doch gleich, daß Sie nicht auf den Kopf gefallen sind. Ihr Einwand ist treffend; ich legte das Experiment zu billig an. Wir müssen es anders anfangen.«
Er mischte von neuem und legte das Buch vor mir auf:
»Sie werden sich jetzt drei Karten denken, doch mir die Namen nicht mitteilen. So, greifen Sie zu.«
Ich zog von neuem und deckte mit einem Ausdruck der Verblüffung, den ich nicht verbergen konnte, die drei gedachten Blätter auf. Der Fremde weidete sich an meiner Bestürzung, die offensichtlich war.
»Wer hat nun Gedanken gelesen – Sie oder ich? Sie werden diese Frage nicht beantworten, da Sie nicht wissen, was Gedanken sind. Gedanken sind nichts anderes als Aktionen der Materie. Und diese Materie bildet sowohl die Fasern des Gehirnes als auch die Kugel der Roulette oder ein Kartenspiel. Nur ist es unendlich leichter, zu erraten, was sich unter der Rückseite eines Kartenblattes als was sich hinter einer Stirn verbirgt. Doch wenn Sie wollen, lehre ich Sie die Kunst.«
Es wurde mir immer klarer, daß ich einem höchst geschickten Gauner ins Garn gegangen war. Nur schien mir unerklärlich, was er von mir wollte, denn jeder sah doch von ferne, daß an mir nichts zu rupfen war. Kein Lumpensammler hätte sich um mich bemüht. Am ersten war noch anzunehmen, daß er sich mit mir ein Späßchen machen wollte, und ich beschloß, wohl oder übel darauf einzugehn. Auch ich begann zu lachen und sagte:
»Wenn Sie die Kunst verständen, durch die Kartenblätter hindurchzusehen, dann würden Sie kaum um vier Uhr morgens durch die Wartesäle gehen, um Gesellschaft zu suchen wie die meinige.«
Die Heiterkeit des Grauen schien immer noch zu wachsen; er pfiff vergnügt vor sich hin.
»Schau, schau, ein aufgeweckter Kopf. Schon wieder hat er den wunden Punkt erwischt. Das ist
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