Ein abenteuerliches Herz
Hauptschwierigkeit besteht darin, in die Wohnung zu gelangen, wenn sie gefunden ist. Auch das ist nur durch Zufall zu erreichen, denn das Haus liegt bald in diesem, bald in jenem Stadtviertel. Immer aber herrscht großer Verfall im Hof, im Flur, im Treppenhaus. Es ist ein Wunder, daß sich die Wohnung selbst so gut erhalten hat. Eine neue Art von Hausung hat begonnen – Nachtschwalben, Eulen, Fledermäuse, Vampyre fühlen sich nun wohl.
Diesmal fand ich das Haus in einer zugleich fiebrig belebten und trostlosen Straße: Après-guerre-Stimmung. Die Tür war ohne Klinke, doch leicht zu öffnen – ich betrat den engen, schmutzigen Hof. Von dort führte die Treppe in die Stockwerke. Nun war Vorsicht geboten: neulich war ich Zigeunern begegnet, die sich dort eingenistet hatten – zum Glück waren sie an mir vorübergegangen, ohne mich zu sehen.
Auch jetzt kam jemand die Treppe herab, ein Blaurasierter aus Chikago mit kleinem schwarzem Schnurrbart in der bleichen Maske, Zuhältertyp. Er musterte mich widerwillig, indem er die Oberlippe hochzog; es war ein Wunder, daß wir aneinander vorbeikamen. Das Treppenhaus war sehr viel enger geworden, ein wahrer Schachtgang, wie in den Pyramiden, und es war günstig, daß der Verputz von den Wänden gefallen war. Der Kalk lag auf den Stufen, vermischt mit Scherben der roten, zerbrochenen Luftziegel. Weiter oben wurde es noch enger und unpassierbar; ich mußte mich in der Haustür geirrt haben.
Ich ging also wieder nach draußen in den Trubel und beobachtete aus einiger Entfernung die Häuserfront. Richtig, da waren zwei Türen hart nebeneinander, und ich hatte die falsche gewählt. Schon in ihrer Blütezeit, um die Jahrhundertwende, waren die Häuser schwer zu unterscheiden gewesen; nun hatte der Verfall über ihre Eintönigkeit ein Tarnnetz geworfen, das kaum zu entwirren war. Ich behielt also die Tür im Auge, um erst einmal zu sehen, was da im Gange war. Wie vor der Öffnung einer düsteren Grotte strichen lichtscheue Vögel aus und ein. Ich würde heut nicht in die Wohnung kommen, würde Vorhof und Treppe nicht überwinden; die Dämmerung war zu tief.
Ein andermal ging es besser; ich durchschritt die Stadt, die unzerstört geblieben war, vom Königsdenkmal vor dem Bahnhof bis zum Hause des Tischlers Altenburg. Es war wie auf dem Schulweg; Kameraden waren dabei. Im Hof, wo die geschnittenen Bretter standen, begrüßte mich die Aufwärterin der Großmutter. Ich ließ die Freunde zurück und folgte ihr über die steile Wendeltreppe, auf der ich die Schuhe verlor.
In der offenen Tür empfing mich die Großmutter. Ich umarmte sie, erkannte dann aber sogleich, daß ich mich getäuscht hatte. Die kleine Frau, die mich da begrüßte, war eine Verwandte, die ich nie gekannt hatte, doch war sie mir von alten Familienbildern vertraut. Sie führte mich zur Großmutter, die auf ihrem Lager halb aufgerichtet saß und mich erwartete.
Die Großmutter schien jünger, als sie mir in Erinnerung war. Ihr Gesicht glänzte, als ob sie sich geschminkt hätte. Ich sah in ihre Augen, die mit Pailletten gesprenkelt waren, und dachte: Von ihr also hast du das geerbt.
Sie blickte in einen Spiegel, in dem ihr Gesicht stets jünger wurde, bis an die Grenze des Unerträglichen. Ich mußte die Augen schließen; das Schlafzimmer verwandelte sich, es wurde feierlich.
*
Die Türen im alten Hause standen offen; die Mutter ging über den Flur, zwischen der Kammer, in der der Sohn schlief, und der meinen hindurch. Ich sah und hörte sie nicht, fühlte aber ihre Nähe stärker als mit Sinnen und rief sie an. Sie antwortete nicht. Ich erwachte; das war kein gewöhnlicher Traum.
Ich erhob mich und ging zum »Becher«, wo ich Neuhaus traf. Wir tranken zusammen bis spät nach Mitternacht. Dann brachen wir auf. Neuhaus begleitete mich zur Krausenstraße; ich wohnte wie schon so oft bei der Großmutter. Unterwegs fiel mir ein, daß ich sie zu dieser Stunde nicht mehr wecken dürfte, falls nicht noch Licht bei ihr wäre, was freilich unwahrscheinlich war.
Als ich ankam, fand ich jedoch das Haus geöffnet; es war große Bewegung darin. Ich trat in das Erdgeschoß ein, in die Werkstatt des Tischlers Altenburg, der mich freundlich empfing. Die Großmutter schlief schon seit langem; ich sollte bei ihm zur Nacht bleiben.
Er blickte mich an, als wollte er mich etwas Wichtiges fragen; die Werkstatt war still und feierlich. Sie mußte uralt sein; das Holz des Fußbodens war schwarz geworden wie Kohle; und wie ein
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