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Ein abenteuerliches Herz

Ein abenteuerliches Herz

Titel: Ein abenteuerliches Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz Ludwig Arnold
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ich oft mit ihm zusammen gewesen war, sah ich sogleich, wie es stand. Wir mußten aussteigen. Der Erste Offizier würde die Führung des Beiboots übernehmen; Hartung hatte ihm das nötige Personal zugeteilt. Er selbst würde mit dem Rest der Besatzung zurückbleiben. Was die Passagiere betraf, so mochten sie es unter sich ausmachen. Er teilte die Gewichte mit, wie die Apparate sie errechnet hatten – für die Besatzung, die Passagiere, das unumgängliche Gepäck.
    Unsre Zahl war zu groß, als daß eine allgemeine Verhandlung ein Ergebnis versprochen hätte – wir mußten unser Schicksal einem Gremium anheim geben. Im großen Speisesaal hatten wir zu zwölft an einem Tisch gesessen und uns kennen gelernt. Hartung schlug vor, daß jeder Tisch einen Vertrauensmann zur Beratung in den Rauchsalon abordnete. Das schien uns richtig; die Zahl der Stimmen wurde damit auf fünfundzwanzig reduziert.
    Die Beratung dauerte lange, und das Licht an Bord war bereits schwach geworden, als der Obmann uns ihr Ergebnis mitteilte. Es entsprach offenbar der Absicht, möglichst viel Köpfe zu retten, und das Gremium war dazu auf ein Ei des Kolumbus verfallen, das auf den ersten Blick einleuchtete. Man würde uns wiegen und dann vom Leichtesten an einschleusen, bis das Gesamtgewicht erreicht sein würde, das uns zugewiesen war.
    Ich hätte eine Auslosung vorgezogen, wie sie im Mittelalter unter dem Galgen vorgekommen war. Aber Beschluß ist Beschluß, und gegen diesen ließ sich nichts einwenden. Von mir um so weniger, als ich eine Krankheit hinter mir hatte und stark abgemagert war. In der Tat befand ich mich, als das Wiegen anfing, wenn ich so sagen darf, unter den »happy few«.
    Davon abgesehen, war das Ergebnis insofern erstaunlich, als ein kleiner Gelber nach dem anderen sich wie beim Jüngsten Gericht auf die gute Seite stellte, bis sie dort fast vollzählig versammelt waren – bis auf einige Schwergewichte, an denen es auch bei ihnen nicht fehlt.
    Vielleicht war es ein Zufall, unbeabsichtigt. War ein Macchiavell unter ihnen gewesen, so hatte er glänzend taktiert. Als Fachgenossen hatten wir uns gut verstanden, jetzt trat ein Unterschied hervor. Die Harmonie war in Gefahr – um so mehr, als das Atmen schon schwierig zu werden begann. Ich hörte neben mir die Stimme des Arztes: »Wären Kinder an Bord, dann hätte die Wiegerei noch einen Sinn gehabt.« Nur Don Capisco hatte seinen Humor behalten: »Immerhin ist das Glück der möglichst vielen erreicht worden.«
    Die Stimmung war solchen Späßen nicht hold. Vielmehr wurde sie unangenehm, ja primitiv. Man warf sich sogar die Hautfarbe vor. Dabei war es so dunkel geworden, daß man sie nicht einmal mehr sah. Es bildeten sich zwei Parteien, die sich drohend gegenüber standen, dazwischen die Besatzung, der die Entwicklung offenbar zusagte. Nach all den Beratungen und Berechnungen würde es zum Kampf um den Notausgang kommen; schon hatten die ersten sich am Kragen; die Lichter gingen aus.
    Ihr werdet mich fragen, wie ich davongekommen bin. Nun, auf die altbewährte Weise: indem ich aufwachte. Wo freilich – das bleibt eine Frage für sich.

IN TOTENHÄUSERN, 1965
    Das Haus der Großmutter. Hin und wieder, vielleicht regelmäßig, scheine ich es zu betreten; ich weiß nicht, wie oft. Nur wenn ich, wie heute, in der Nacht erwache, gelingt mir ein Blick auf die andere Seite und in ihren Zusammenhang. Ein solcher muß bestehen, denn auch dort ist eine Entwicklung, ein Nacheinander, ist langsamer Verfall.
    Die Wohnung liegt im Ersten Stock. Unter ihr ist das Parterre, über ihr die Zweite Etage, wie das auch damals in der Kindheit und bis zur Zerstörung des Hauses war. Der Zwischenstock hat etwa die Breite eines Messerrückens, ist also schmaler als die Mörtelschicht, die zwei Lagen von Ziegelsteinen trennt. Erst wenn ich die Wohnung aufschließe, gewinnt sie ihre Größe zurück. Ich führe den Schlüssel bei mir – er ist klein, flach, mit eingestanzter Ziffer, kurzum von der Sorte, wie man sie zum Öffnen von Tresoren benützt.
    Ich weiß nicht, was ich in der Wohnung treibe, wenn ich sie erreicht habe. Dort ist es sicherer als draußen in der Zeit. Die alten, vertrauten Möbel sind noch da, Einrichtung von 1880, Sessel, Portieren, Makartsträuße, Bilder von Grützner, Sofa style mauvais goût. Alles zugleich feuerfester als damals und schattenhaft. Auch ich muß den Gesetzen der Schatten folgen, bewege mich mit angehaltenem Atem, ohne anzustoßen, vorsichtig.
    Die

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