Ein abenteuerliches Herz
überfüllt. Während ich im Gedränge stand und mich umblickte, fuhr der Zug wieder an. Das war um so ärgerlicher, als mein Gepäck auf dem Bahnsteig lag; auch der Mantel mit der Brieftasche war dabei.
Während ich überlegte, wie ich mich aus der Affäre ziehen könnte, gab es unter den Mitreisenden Tumult. Sie hatten einen Betrüger entlarvt. Er mußte seinen Koffer auspacken. Dürftig gekleidet, sah er wie ein verkommener Virtuose aus, wie einer von denen, die durch vorgespiegeltes Unglück Mitleid erregen, sich als Blinde oder Abgebrannte vorstellen. Avé-Lallemant zählt Dutzende davon auf.
Dieser hatte seine Frau durch ein furchtbares Unglück verloren und führte die Leiche in einem schwarzen Koffer mit. Er zwängte sich in dicht gefüllte Coupés, erzählte den Kummer und sammelte milde Gaben ein. Dazu stellte er einen Teller auf den Koffer und hatte seine Erzählung so bemessen, daß sie kurz vor einer Station endete.
Den Koffer öffnete er nicht. Das zu erwarten wäre auch taktlos gewesen, vor allem solange die Rührung vorhielt – hier aber mußte etwas dazwischen gekommen sein, das die Vorstellung hinausgezögert hatte; vielleicht trug der Schaffner mit seiner Suche nach dem Fernglas daran Schuld.
Jedenfalls war der Effekt verschwunden; das Mitleid war verraucht. Nun hieß es auspacken, man wollte die Leiche sehen. Mich hatte es schon gewundert, daß sie in einem Handkoffer Platz gefunden haben sollte, aber vielleicht hatte sie nur die Größe einer Puppe gehabt. Es gibt schließlich Zwerginnen und winzige Mumien. Die Ethnologen wissen Beispiele.
Indessen gab es, als der Mann seinen Koffer geöffnet hatte und auszupacken begann, kaum Überraschungen. Das übliche Reisegepäck. Je länger er darin herumwühlte, desto ungemütlicher wurden die Betrogenen. Dabei wurde er immer dünner, als ob ihm die Luft entwiche, und endlich schrie er: »Aber das war doch ihr Kamm!«
Mußte ich nun mein Fernglas verlieren, um das Schauspiel mitzuerleben, das dieser Unglückliche aufführte?
Wilflingen, 19. Oktober 1985
Nachts Friedrich von Stauffenberg. Sein Merkur scheint ihm auch im Zwischenreich so günstig wie zu Lebzeiten. Er lud mich ein, eins seiner neuen Güter zu besichtigen. Es lag in einer Gegend, die ich schon öfters im Traum besucht hatte. Dort fragte er mich nach einem Bande von Hermann Kurz, den er mir geliehen habe – dessen erinnerte ich mich nicht.
Tagsüber fiel mir ein, daß wir nie über diesen Autor gesprochen haben – ein Zusammenhang wäre vielleicht darin zu suchen, daß er, auch ein Maulbronner, eine mantische Erzählung »Die beiden Tubus« geschrieben hat.
Wilflingen, 8. August 1988
Montag, den 8.8.88; ein Datum mit vier Achten, ein Montag dazu. Die Standesbeamten werden zu tun haben, die Briefträger auch. Man tauft und heiratet an solchen Tagen gern; sie sind auch beliebt als Geburtsdaten.
Die Acht hat es in sich; Odin reitet auf achtfüßigem Roß. Sie ist die Zahl bestimmter Begegnung; mit der Neun folgt ein neuer Beginn. Auch mir hat das Datum oft Überraschungen beschert. Ich verstehe den Satz in seinem zweideutigen Sinn. Datum, Überraschung, Bescherung – jedes Wort hat seine Kehrseite. Am besten sollte man an solchen Tagen im Bett bleiben. Aber das ist mein Charakter nicht. Schon als ich um Mitternacht erwachte, spürte ich Lust, mich zu bewegen – ich landete um neun Uhr morgens in Orly, einem der ehrwürdigen Flughäfen von Paris. Durch Zeitsprung hatte ich sechs Stunden gewonnen, wie ich von der Stewardeß erfuhr, die mich betreut hatte. Ich hätte daraus zwar nicht den Ort, an dem ich geschlafen hatte, wohl aber die zurückgelegte Entfernung berechnen können, doch ist das für uns nicht mehr so wichtig wie zur Zeit der Postkutschen. Vielleicht hatte ich in einer fernöstlichen Großstadt übernachtet; die Stewardeß war von malaiischem Typ. Wir hatten uns gut unterhalten, ich hätte sie gern zum Essen eingeladen, sie schien auch nicht abgeneigt zu sein. Doch abgesehen davon, daß man nie weiß, wie eine Affäre endet, war sie zu diesem Datum besonders gewagt. Es wäre besser, den Tag ohne Abenteuer zu verbringen – bei einer guten Pfeife meditierend oder mit der Betrachtung von Kunstwerken.
Am Flughafen stand ein einsames Taxi; ich stieg ein und ließ mich auf gut Glück durch die Stadt fahren. Den Fahrer schien das nicht zu wundern; es traf sich, daß er betrunken war. Als ich ihn fragte, warum schon am Morgen, sagte er: »Ich bin ein Streikbrecher.«
Ich
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