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Ein abenteuerliches Herz

Ein abenteuerliches Herz

Titel: Ein abenteuerliches Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz Ludwig Arnold
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in Berlin sein, denn die Rodung grenzte an die Hornstraße. Wahrscheinlich war sie nach dem Direktor des Entomologischen Museums benannt Und richtig erkannte ich das Gebäude wieder; es trug den Scarabaeus am Portal.
    Der Vormittag war verfahren; vielleicht ließe er sich noch ausmünzen, wenn ich, wie Horn zu sagen pflegte, drüben ein wenig entomologisch frühstückte. Gedacht, getan.
    Der Direktor war im Vorgarten beschäftigt; er pflanzte dort mit seinem Assistenten einen Maulbeerbaum. Sie waren dabei, das Pflanzloch zuzuschütten, und streuten Holzasche ein. Vom gleichen Grau war der Kinnbart, den der Direktor trug. Im Leben war er glattrasiert gewesen – jedenfalls hatte ich nur solche Bilder von ihm gesehen. Aber man sagt ja, daß die Haare nachwachsen.
    Er begrüßte mich freundlich, als ich meinen Namen nannte – alle Entomologen kennen einander, das ist ein Geheimorden. Einmal hatten wir korrespondiert: wegen eines Exoten, den ich aus einem Wasserbecken der Dahlemer Treibhäuser gefischt hatte.
    Obwohl ich wußte, daß der Direktor, wie jeder intensive Geist, solche Vormittagsbesuche nicht liebte, bat ich ihn um ein wenig Augentrost. Der Anblick einiger Spezies würde mich aufmuntern. Wider Erwarten war er aufgeschlossen; er legte den Arm um meine Schulter und führte mich hinauf.
    Durch eines der Treppenfenster sah ich den Garten, der sich hinter dem Museum ausdehnte. Für eine Großstadt war er seltsam verwildert – vom Wind gesträhltes Heidekraut und Ginster wie in Fabres Garten zu Sérignan.
    Der Direktor sagte: »Hier gibt es keine Spezies, sondern nur Gattungen zu sehen.«
    Wilflingen, 18. Oktober 1984
    Seit langem wieder ein Pariser Nachtstück – ich habe noch Schlaf nachzuholen und schlief, nachdem ich um acht Uhr erwacht war, wieder tief ein, ging dann mit Banine durch die Stadt.
    Wir waren zum Abendessen eingeladen und fanden kein Taxi, auch störte mich, daß ich im Pyjama war, obwohl ich einen Mantel darüber trug. Banine beruhigte mich: »Für die kleine Sächsin ists schon zuviel.«
    Vor einer Kreuzung staute sich die Menge; dort mußte etwas geschehen sein. Mit pulsierenden Lichtern und Signalen bog ein Rettungswagen um die Ecke und hielt vor einem Bistro; ein Arzt und einige Gehilfen stiegen aus. Sie öffneten einen in das Pflaster eingelassenen Deckel und zogen eine Frau an den Füßen heraus. Auf einem Bilde wäre der Anblick obszön gewesen; hier löschte der Schrecken jeden Gedanken daran aus.
    Die Unglückliche mußte in den engen Schacht gefallen oder hineingestoßen worden sein. Wir hörten ein Stöhnen und einige unverständliche Worte von ihr. Dann kam einer der Wärter mit einem seltsamen Instrument: einem herzförmigen Ring aus hellem Metall, vielleicht Nickel, der an einem armlangen Griff befestigt war. In den Ring war seine Bestimmung graviert: »Dégringolade des Morts«.
    Aha, offenbar ein Werkzeug zur Wiederbelebung, eine Art von Rettungsring. Inzwischen hatten sie die Frau entkleidet und auf das Pflaster gelegt. Ein Wärter hielt ihr mehrmals, ohne sie zu berühren, den Ring über die Brust. Dann setzte er ihr mit kräftigen Schlägen auf den Rücken zu. Allein sie rührte sich nicht. Schließlich wurde der Leichnam auf einer Bahre in den Wagen geschoben, der langsam und ohne Signale fortfuhr; die Menge zerstreute sich.
    Die Tote war eine junge und gut gewachsene Frau gewesen – zuvor waren noch ihre Schuhe gezeigt worden: kleine Lackstiefelchen, eher Kinder- oder Puppenschuh. Die Vorweisung war also symbolisch gemeint gewesen; man sagt ja, wenn einer gestorben ist, daß er »die Schuhe ausgezogen« hat.
    *
    »Dégringoler« war mir neu gewesen; als ich am Vormittag im Littré nach dem Wort suchte, sah ich, daß es zwar existiert, doch eine andere Bedeutung, nämlich »hinunterpurzeln«, hat. Das ist eine saloppe Wendung, doch sie trifft den Unfall – die Pariser Traumpolizei ist hoch spezialisiert.
    Wilflingen, 17. Oktober 1985
    Im Eilzug. Fast wäre ich über mein Ziel hinausgefahren, denn ich las wie gewöhnlich und war lebhafter im Text als im Abteil. Erst auf dem Bahnsteig merkte ich, daß ich mein Fernglas vergessen hatte, und bat den Schaffner, sich danach umzusehen. Er brachte es mir in der Tat, aber es hatte sich verändert – wahrscheinlich hatte er es mit dem eines anderen Reisenden vertauscht. Das kann vorkommen, besonders jetzt, wo die Jagd aufgegangen ist.
    Ich stieg also selbst in den Zug, um die Verwechslung rückgängig zu machen; das Abteil war

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