Ein allzu braves Maedchen
fort.
»Rosalynn hält immer ein spezielles Zimmer für mich frei, in dem ich mich wohlfühle. Es fällt mir schwer, gut zu arbeiten, wenn das Umfeld nicht stimmt. Ich brauche eine vertraute Umgebung, sonst dreh ich am Rad. Mein Zimmer hat die Nummer sieben. Die Sieben ist ja eine magische Zahl. Die birgt ein Glück in sich, das irgendwann aufbricht. Man muss nur lange genug warten können. Dachte ich jedenfalls.
Das Zimmer hat ein Fenster zum Feld raus. Die der anderen gehen zur Straße oder zum Innenhof. Der Blick aufs Feld gibt mir Kraft. Das ist so karg da draußen und so still, da finde ich mich wieder, wenn ich rausgucke. Da bin ich dann nicht mehr so einsam mit mir, die Natur gibt mir Kraft. Das war schon immer so. Vor allem die Blumen. Die Wände sind dunkelrot mit lila. Das sind meine Lieblingsfarben. Über dem Bett ist ein Spiegel angebracht und drum herum kleine Lämpchen, die man dimmen kann, wenn ein Kunde es lieber kuschelig mag.
Ich trinke vor den Terminen immer Wodka, um mich sicherer zu fühlen. Ich bin einfach mutiger, wenn ich was intus hab. Warum soll man sich das Leben unnötig schwer machen.«
Dr. Minkowa blickte ihr nur in die Augen und lächelte sie an. Und das schien genau das zu sein, was die junge Frau so lange vermisst hatte.
Denn sie redete weiter. »Ich schäme mich so dafür.«
»Das müssen Sie nicht. Es ist schön zu sehen, dass Sie sich darum bemühen, das Schweigen in Ihnen zu brechen.«
FREITAG
2
7
Die Therapeutin betrachtete sie schweigend. Ein kleiner Sonnenstrahl, der sich einen Weg durch die Wolken gebahnt hatte, schien in das rötliche Haar ihrer Patientin. Ein kleines Leuchtfeuer.
»Gestern erzählten Sie aus der Zeit, als sie begannen, Ihren Beruf auszuüben. Gab es da Begegnungen, an die Sie manchmal zurückdenken?«
»Eher weniger.«
Sie mochte nicht darüber sprechen, aber dann fiel ihr doch etwas ein. »Na ja, einen gab es, der war ganz nett. Der Karl. Der war ziemlich spendabel. Der ist schon mindestens siebzig, hat aber immer noch Spaß. Ich hatte den in Verdacht, dass er heimlich Viagra genommen hat. Das war nicht normal mit dem. Der konnte ständig und auch mehrmals. Manchmal hatte ich schon Angst, dass der irgendwann tot umkippen würde, weil er sich immer so aufgeregt hat.
Der Karl hat mich schon mal mit nach Italien genommen. Nach Rimini. Er hat für irgendeinen Reisekonzern gearbeitet und musste ein Hotel abchecken. Das war ziemlich interessant. Ich war davor noch nie am Meer gewesen, das hat mich schwer beeindruckt. Leider war die Reise im März und das Wasser zu kalt, aber schön war’s trotzdem. Wie Ferien eigentlich. Obwohl ich, wenn ich ehrlich bin, davor noch nie echte Ferien hatte, weil ich ja immer Geld verdienen musste, also weiß ich eigentlich gar nicht, wie Ferien aussehen. Der Karl nannte mich seinen Gleitschutz. Ich hab den Witz damals nicht verstanden. Es war wohl eine Abkürzung für Begleitschutz, und er ist vor Lachen fast kollabiert. Aber er war extrem spendabel und erinnerte mich von seiner Statur her an meinen Vater.«
Sie knibbelte an ihren Fingerkuppen. Dann umschlang sie sich wieder mit den Armen.
»Er war der Erste, dem ich vom Tod meiner Mutter erzählt habe. Natürlich lag das auch daran, dass er genau an dem Tag einen Termin bei mir hatte. Aber es war trotzdem tröstlich, jemanden zum Reden zu haben. Also, nicht dass wir jetzt viel geredet hätten, wir hatten ja anderes zu tun, und natürlich hatte Karl ein Recht auf ein bisschen Entspannung. Aber es hat mir gutgetan, sagen zu können, dass es mir an dem Tag nicht so gut ging, weil meine Mutter sich gerade erst die Pulsadern aufgeschnitten hatte.«
»Wann hat sich Ihre Mutter das Leben genommen?«
»Da war ich Anfang zwanzig.«
Dr. Minkowa schwieg. Dann fragte sie: »Vermissen Sie Ihre Mutter?«
»Manchmal. Sie hat sich, glaube ich, nie richtig für mich interessiert. Also, sie hat nicht gesehen, dass ich sie gebraucht hätte. Sie war ja auch immer weg.«
Sie machte eine Pause und begann, eine Haarsträhne um ihren Zeigefinger zu wickeln. Immer wieder. Dann sagte sie: »Es war für mich ein ziemlicher Schock, als ich den Anruf bekam. Und das werde ich ihr nie verzeihen. Dass sie sich so aus dem Staub gemacht hat. Irgendwie dachte ich auch, da hätte ich doch zehnmal mehr Grund gehabt. Ich war nicht direkt eifersüchtig, dass sie es geschafft hatte, aber ich nahm es ihr übel, mich zurückgelassen zu haben, ohne je mit mir über meine Scheißkindheit zu
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