Ein allzu schönes Mädchen
Elvira. «Oder doch: Ich soll dir sagen, dass Döring und Liebmann noch im Büro sind. Wenn du willst, geh nochmal
bei ihnen vorbei. Ich glaube, sie haben mit Maria Wieland gesprochen.»
«Danke», sagte Marthaler. Dann wünschte er ihr ein schönes Wochenende.
«Sehr gemütlich wird es wohl nicht werden», erwiderte Elvira. «Wir halten nämlich Familienrat. Du weißt schon …»
Marthaler nickte, aber er sagte nichts. Er wusste: Auf die privaten Probleme seiner Sekretärin würde er sich im Moment nicht
konzentrieren können.
Döring und Liebmann saßen vor ihren Computern und tippten Berichte, als Marthaler das Büro betrat. Beide schienen die Störung
als eine willkommene Unterbrechung zu betrachten. Während Liebmann schwieg, begann Kai Döring von ihrem Besuch bei Maria Wieland
zu erzählen. Schon nach den ersten Sätzen wurde er von Marthaler unterbrochen.
«Das Wichtigste zuerst!», sagte er. «Habt ihr der Frau das Foto gezeigt? War der Mann, den sie auf ihrem Balkon überrascht
hat, Hendrik Plöger?»
|310| Döring nickte.
«Ja», sagte er. «Sie hat ihn zweifelsfrei und ohne zu zögern erkannt.»
«Was hat sie für einen Eindruck von ihm gehabt? Hat sie dazu etwas gesagt?»
Döring überlegte. Dann schaute er sich hilfesuchend nach Liebmann um. «Ja. Ich glaube, sie sagte, er habe orientierungslos
gewirkt.»
«Nein», korrigierte Liebmann. «Das Wort war aufgelöst. Hendrik Plöger habe auf sie gewirkt wie ein Mensch, der völlig aufgelöst
war.»
«Hatte er eine Waffe? Ist er gewalttätig geworden? Hat er sie bedroht?»
Nun ergriff Döring wieder das Wort. «Im Gegenteil. Als sie ihm mit ihrer Schreckschusspistole gegenüberstand, hat er sofort
die Hände hochgenommen und gefragt, was er machen soll.»
«Er hat was?»
«Er fragte: ‹Was soll ich machen?› Und als sie ihn aufforderte zu verschwinden, ist er augenblicklich über das Balkongeländer
geklettert und auf den Rasen gesprungen.»
Marthaler dachte über diese Informationen nach. Obwohl er noch nicht wusste warum, hatte er das Gefühl, dass sie von großer
Wichtigkeit waren, jedenfalls bekamen sie langsam eine Ahnung von Plögers Charakter.
«Wir müssen noch mehr über ihn erfahren. Unsere Vorstellung davon, was er für ein Mensch ist, ist noch zu vage. Ich denke,
es wäre gut, wenn noch mal jemand mit Sandra Gessner sprechen würde. Aber nicht am Telefon.»
«Heute noch?», fragte Döring.
«Heute oder morgen. So schnell wie möglich.»
«Das kann ich machen», sagte Liebmann. «Ich habe sowieso Bereitschaftsdienst.»
|311| «Gut», sagte Marthaler. «Frag Petersen. Er hat heute Nachmittag mit ihr telefoniert. Er weiß, wo sie zu erreichen ist.»
Marthaler verabschiedete sich von den beiden. Als er bereits auf dem Gang war, kehrte er noch einmal um. «Kennt jemand von
euch den Schutzpolizisten Raimund Toller?»
Döring verdrehte die Augen, sagte aber nichts.
«Was ist?», fragte Marthaler. «Kennst du ihn? Was ist er für ein Polizist?»
Döring schüttelte den Kopf.
«Nein», sagte er. «Ich will mir von dir nicht schon wieder einen Rüffel einfangen. Dass ich den Kollegen gegenüber überheblich
sei.»
Liebmann sprang ihm bei.
«Wir waren mit Toller zusammen in der Ausbildung», sagte er. «Er ist ein Rambo. Und wenn ich noch deutlicher werden soll:
Er ist das geborene Arschloch.»
Marthaler nickte. Ein Rambo. Das deckte sich mit dem Bild, das er selbst von Toller gewonnen hatte. Wenn er bisher noch gezweifelt
hatte, jetzt war er sicher: Er würde eine Überprüfung Raimund Tollers veranlassen.
|312| Vierunddreißig
Marthaler nahm die U-Bahn . Am Südbahnhof stieg er aus und ging den Großen Hasenpfad hinauf.
Als er gerade die Wohnungstür hinter sich geschlossen hatte, klingelte das Telefon. Sofort begann sein Herz schneller zu schlagen.
Nein, dachte er, nicht das. Nicht schon wieder eine schlechte Nachricht. Nicht noch ein Einsatz heute Abend.
Er nahm den Hörer ab.
Es war seine Mutter. «Ach, Mutti. Schön.»
Seine Mutter schien zu stutzen. «Robert. Was ist los mit dir?»
«Nichts, nichts. Ich bin gerade heimgekommen. Ich habe befürchtet, es sei dienstlich. Schön, dass du dich meldest.»
«Ja. Wenn die Jugend nicht zum Alter kommt, muss das Alter wohl zur Jugend kommen.»
Marthaler lachte. Er wusste, es war nicht vorwurfsvoll gemeint. Trotzdem entschuldigte er sich dafür, dass er so lange nicht
angerufen hatte.
«Schon gut», sagte sie. «Ich weiß doch,
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