Ein allzu schönes Mädchen
überdeckten alles, was in den letzten Tagen geschehen war.
Seit er Tereza vor der Buchhandlung am Schweizer Platz getroffen hatte, hatte er keine Minute mehr an den Fall gedacht.
Er überlegte, was er eigentlich über sie wusste. Es war so gut wie nichts. Sie kam aus Prag, studierte Kunstgeschichte, mochte
die Bilder von Francisco de Goya und wollte nach Madrid. Das war alles. Er wusste weder, wie sie mit Nachnamen hieß, noch,
wie alt sie war. Bis vor wenigen Stunden hatte er sie gerade zweimal gesehen, und jetzt wohnte sie schon bei ihm. Trotzdem
fragte er sich keinen Moment, ob er einen Fehler gemacht hatte. «Ich finde es schön lustig mit dir.» Er war der Meinung, ein
Mädchen, das einen solchen Satz zu ihm sagte, hatte jedes Vertrauen verdient.
Einmal in der Nacht knipste er das Licht an, um zur Toilette zu gehen. Als er zurückkam, schaute er auf das Foto von Katharina,
das auf seinem Nachttisch stand. Er tat es ohne eine Spur von Unruhe. Er lächelte und knipste das Licht wieder aus. Dann schlief
er ein.
Geweckt wurde er durch ein ungewohntes Rumoren in seiner Wohnung. Nur langsam kämpfte er sich aus den Tiefen des Schlafes
herauf. Noch mit geschlossenen Augen nahm er |319| wahr, dass es draußen bereits hell war. Er lauschte auf die Geräusche. Dann fiel ihm Tereza wieder ein. Er schaute auf die
Uhr. Es war Viertel nach zehn. Er ließ den Kopf wieder auf das Kissen sinken.
Er versuchte sich vorzustellen, was Tereza dort draußen machte. Er versuchte sich ihr Gesicht und ihren Körper vorzustellen.
Ihm fiel ihr Lächeln ein. Er merkte, dass er sich auf sie freute. Aber er blieb noch eine Weile liegen, um seine Freude auszukosten.
Schließlich stand er auf. Auch wenn er sich sonst im Sommer nackt in der Wohnung bewegte, zog er sich jetzt einen dünnen Schlafanzug
über und ging in die Küche. Sie hatte bereits Kaffee gekocht und den Tisch gedeckt, aber sie war nirgends zu sehen.
Dann hörte er, wie in der Dusche das Wasser zu rauschen begann. Er ging in den Flur. Die Tür zum Badezimmer stand offen.
Er sah Tereza, wie sie mit geschlossenen Augen unter der Dusche stand. Sie hatte den Kopf nach hinten gebeugt und spülte sich
die Haare aus. Er blieb an der Tür stehen und schaute sie an. Dann drehte sie das warme Wasser ab und brauste sich mit einem
kalten Schwall ab. Sie zappelte, und er sah, wie sich ihre Haut unter der Kälte kräuselte. Plötzlich drehte sie den Kopf und
sah ihn an.
Er wich ihrem Blick nicht aus.
Sie lächelte.
Dann ging er zurück ins Schlafzimmer, holte ein frisches Badetuch und brachte es ihr.
«Danke», sagte sie. Und: «Guten Morgen.»
Während sie sich abtrocknete, putzte er sich die Zähne. Dann ging er in die Küche, legte Brötchen in den Ofen, setzte sich
an den Frühstückstisch und wartete auf sie.
Er sah, wie sie nackt durch den Flur huschte.
|320| «Ich bin gleich so weit», rief sie.
Fünf Minuten später war sie angezogen und setzte sich ihm gegenüber. Er suchte in ihren Augen nach der Spur eines Unbehagens
oder eines Vorwurfs, weil er sie heimlich angeschaut hatte. Er konnte nichts dergleichen entdecken. Trotzdem bat er sie um
Entschuldigung.
«Für was?», fragte sie.
«Für eben. Ich hätte dich nicht so anstarren dürfen.»
Sie schüttelte den Kopf.
«Ich bin auch ein Augenmensch», sagte sie.
Er merkte, wie ihn auch diese Antwort erstaunte. War es wirklich so einfach? Konnte man so unverstellt miteinander umgehen?
«Wie alt bist du?», fragte er.
«Achtundzwanzig. Und du?»
«Vierzig.»
«Ist das deine Frau?» Sie deutete mit dem Kopf auf das Foto Katharinas, das hinter ihm an der Wand hing. Er nickte.
«Ich werde dir von ihr erzählen», sagte er. «Aber später. Nicht jetzt.»
«Hast du Zeit? Wollen wir etwas machen?», fragte sie.
«Hast du einen Vorschlag?»
Sie überlegte. Auf einmal klatschte sie in die Hände. «Au ja. Weißt du was, wir gehen zusammen ins Städel. Ich mache eine
Führung mit dir. Und ich möchte dir die beiden Bilder von Goya zeigen, die dort hängen. Was hältst du davon?»
Marthaler war einverstanden. Und er dachte, dass es wohl nichts gab, was er an diesem Morgen nicht gerne gemeinsam mit Tereza
gemacht hätte. Außerdem war es viele Jahre her, dass er zuletzt in den Städelschen Kunstsammlungen gewesen war.
«Ja», sagte er. «Gerne. Nur muss ich mein Mobiltelefon leider mitnehmen. Und ich muss es angeschaltet lassen.»
|321| «Du hast mit den toten Männern im Wald
Weitere Kostenlose Bücher