Ein allzu schönes Mädchen
unterzugehen.»
Erst ganz zum Schluss führte sie ihn in den Raum mit den Gemälden von Goya. Sie mussten ein paar Stufen hinaufgehen. Es waren
zwei kleine dunkle Bilder. Sie hingen rechts an der Wand. Und sie trugen beide denselben Titel: «Szene aus dem spanischen
Krieg».
«Ich möchte, dass du mir die Bilder beschreibst», sagte Tereza. «Sag mir, was du siehst.»
Marthaler fühlte sich überrumpelt.
«Was meinst du?», fragte er. «Ich sehe Krieg. Gewalt.»
«Nein, das stimmt nicht. Krieg kann man nicht sehen. Gewalt auch nicht. Man sieht Formen und Farben. Vielleicht |324| sieht man Figuren und Gegenstände, die aus Farben und Formen gestaltet sind. Schau einfach hin und fang an.»
«Also gut», sagte er. «Ich sehe eine Frau.»
«Wie sieht sie aus? Ist sie alt, ist sie jung? Ist sie fröhlich oder traurig?»
«Eher jung. Sie liegt auf dem Boden. Ihre Kleidung ist verrutscht, sie ist halb nackt. Sie hat einen schönen Körper. Man tut
ihr etwas an.»
«Gut, weiter», ermunterte ihn Tereza. «Was tut man ihr an? Und wer?»
«Ein Mann steht über ihr. Ein mächtiger, grober Kerl. Er packt sie am Unterarm. Alles ist dunkel. Fahl. Es passiert nachts.»
«Sonst noch was?»
«Ja», sagte Marthaler, der langsam Gefallen an dem Spiel fand. Terezas Ermunterungen machten ihm Spaß, und er merkte, wie
sich seine Wahrnehmung schärfte. «Zwei Kinder. Eins ist rechts, eins links von der Frau. Es sind ihre Kinder. Sie weinen oder
schreien. Sie haben Angst. Dann ist da noch ein Mann.»
«Was ist mit dem anderen Mann?»
«Er steht daneben. Man kann ihn nur schwer erkennen. Er tut nichts. Er ist vermummt und steht einfach da. Er wirkt wie ein
Wächter des Bösen.»
Tereza klatschte vor Begeisterung in die Hände. Eine Museumsaufsicht kam in den Raum und schaute, ob alles in Ordnung war.
Tereza ließ sich nicht beirren.
«Das ist sehr gut», sagte sie. «Der vermummte Mann ist ein Wächter des Bösen.»
«Im Hintergrund, weiter entfernt, sieht man so etwas wie Körper. Eigentlich sind es nur Schemen. Es sieht aus, als habe man
Menschen an den Füßen aufgehängt.»
«Wie wirkt das Ganze auf dich?», fragte Tereza.
|325| «Sehr brutal», sagte Marthaler. «Die Gesichter der Menschen sind kaum zu erkennen. Alles ist ein Knäuel. Als ob Täter und
Opfer unentwirrbar miteinander verknäuelt sind.»
Tereza nickte.
«So», sagte sie. «Jetzt das andere Bild.»
«Es ist das Gleiche», sagte Marthaler.
«Nein», sagte Tereza. «Es ist vielleicht ähnlich. Aber es ist nicht das Gleiche. Dann hätte Goya es nicht malen müssen.»
«Gut. Eine Frau im weißen Kleid. Sie kniet im Vordergrund. Eine Brust ist entblößt. Hinter ihr steht ein kräftiger Mann, er
hat einen stechenden Blick, seine Beine sind gespreizt. Er hält ihren linken Arm gepackt, und er zerrt ihren Kopf an den Haaren
nach hinten. Das Gesicht der Frau ist gerötet, fast schon verzagt. Als ob sie merkt, dass es keinen Zweck mehr hat, sich zu
wehren.» Marthaler hielt einen Moment inne.
«Es ist grässlich», sagte er. «Und das Grässlichste ist, dass man auch hier wieder ein weinendes Kind sieht, das sich an der
Mutter festklammert.»
«Ja. Es ist nicht schön, was man da sieht», sagte Tereza. «Aber es ist schön gemalt. Du musst das unterscheiden. Mach weiter!»
Obwohl es ihn mehr und mehr vor dem Anblick schauderte, zwang Marthaler sich, mit seiner Beschreibung fortzufahren.
«Hinter den dreien sieht man eine andere Gruppe. Ein paar dunkle Kerle, einer hat ein Schwert, vielleicht sind es Soldaten.
Sie tragen den Körper einer weiteren Frau. Sie ist nackt, nur eine Art Schleier ist nachlässig über ihren Körper geworfen.
Einer ihrer Arme hängt schlaff herab. Wahrscheinlich ist sie bereits tot. Ihr Gesicht ist bleich. Sie hat bereits alles hinter
sich. Der Schleier wirkt wie eine Art Leichentuch.»
«Siehst du eine Ähnlichkeit?», fragte Tereza. «Zu einem anderen Gemälde, das wir vorhin gesehen haben?»
|326| Marthaler überlegte, aber es fiel ihm nicht ein, welches Bild sie meinte.
«Es sieht aus wie die Kreuzabnahme, die wir auf dem Altarbild gesehen haben.»
Jetzt, da sie es sagte, sah er es auch.
«Und hier …» Sie wies auf ein Stück Tuch, das über der Schulter des Kindes zu sehen war. «Schau mal. Es sieht aus, als ob dies ein Flügel
wäre. Als sei das Kind bereits ein Engel.»
Marthaler war erschöpft.
Tereza lächelte ihn an.
«Das hat Spaß gemacht», sagte sie.
«Das stimmt»,
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