Ein allzu schönes Mädchen
seine Tochter als Kind missbraucht. Man versuchte zunächst, die Vorwürfe diskret
zu behandeln, aber im Kollegium sprach sich die Sache rasch herum. Obwohl nie Anzeige erstattet wurde, entwickelte sich innerhalb
der Lehrerschaft so etwas wie eine Kampagne gegen Peter Geissler.»
«Und was war mit Marie-Louise? Hat man sie nicht befragt? Sie hätte die Sache womöglich rasch klären können», sagte Marthaler.
Inzwischen waren sie am Eingang des Landeskriminalamtes angekommen. Sie betraten das Gebäude, grüßten den Nachtpförtner und
fuhren mit dem Fahrstuhl in den dritten Stock, wo Kamphaus sein Büro hatte.
«Man hat wohl versucht, mit ihr zu sprechen, aber sie hat sich jeder Befragung entzogen. Wenn man den Zeugen glauben darf,
hatte sie sich in den letzten Jahren sehr verändert. Alle bestätigten, dass sie ein ungewöhnlich schönes Mädchen war, dem
die Herzen der Jungen nur so zuflogen. Aber sie wurde zunehmend aggressiver und verstockter. Sie stritt sich unentwegt mit
ihrem Vater und sprach kaum noch mit ihrer Mutter. Die Vorwürfe gegen ihren Vater wurden weder bestätigt noch widerlegt. Aber
ob etwas dran war oder nicht: Geissler hielt dem Druck nicht stand. Er meldete sich krank, und schließlich kündigte er fristlos.
In der Schule war man froh, ihn auf diese Weise bequem losgeworden zu sein. Um so etwas wie einen Neuanfang zu gewährleisten,
wurde die Stelle des Schulleiters mit einem Außenstehenden besetzt. Und den Rest kennst du. Das Bild, das ich mir von Marie-Louise
Geissler machen konnte, wurde immer schärfer, bis ich schließlich überzeugt war, dass sie nicht mit ihrer Familie in dem roten
VW Passat gesessen hat, der im April 1999 den Abhang hinuntergestürzt ist.»
Kamphaus schloss die Tür zu seinem Büro auf.
|385| «So», sagte er. «Und jetzt bist du dran, mir zu erzählen, was du über Marie-Louise weißt.»
«Hast du ein Foto von ihr?», fragte Marthaler. «Das ist das Wichtigste. Wir müssen es mit unserem Phantombild vergleichen.»
Kamphaus ging zu seinem Schreibtisch und schaltete den Computer ein. Dann zeigte er auf einen kleinen Beistelltisch, auf dem
sich ein riesiger Stapel mit Akten befand.
«Hier», sagte er. «Ich habe dir sämtliche Unterlagen kommen lassen. In den Ordnern findest du alles, was wir herausbekommen
haben. Jedenfalls kann man uns nicht vorwerfen, dass wir den Fall nicht ernst genommen hätten.»
Aus einer Klarsichthülle zog Kamphaus einen dicken Packen mit Fotos hervor und breitete sie auf der Unterlage seines Schreibtischs
aus. Sie alle zeigten Marie-Louise Geissler, mal allein, mal im Kreis ihrer Familie oder zusammen mit Freunden. Kamphaus drückte
ein paar Tasten auf dem Keyboard des Computers, dann erschien das Phantombild.
Marthaler nickte. Es bestand kein Zweifel. Das subjektive Porträt, das sie in Frankfurt hatten anfertigen lassen, und die
Fotos zeigten dieselbe Person. Die junge Frau, die sie suchten, war nicht länger eine Unbekannte.
«Etwas muss ich noch wissen», sagte Marthaler. «Seid ihr bei euren Ermittlungen auf den Namen Bernd Funke gestoßen?»
Kamphaus schüttelte den Kopf.
«Jochen Hielscher?»
«Nein.»
«Hendrik Plöger?»
«Nein.»
«Das dachte ich mir. Ich wollte nur sichergehen.»
«Also», sagte Kamphaus. «Jetzt will ich etwas hören.»
«KD, entschuldige», sagte Marthaler. «Aber dafür ist jetzt |386| keine Zeit. Wenn du einverstanden bist, möchte ich mich jetzt gleich über die Akten hermachen. Ehrlich gesagt wäre es mir
am liebsten, du würdest mich allein lassen. Und kannst du mir noch einen Gefallen tun und im Hotel Bescheid sagen, dass ich
nicht komme? Wenn ich müde werde, lege ich mich hier ein wenig hin.»
Er zeigte auf eine Sitzgruppe, die aus zwei Sesseln und einer schmalen Couch bestand.
Kamphaus sah Marthaler einen Moment schweigend an. Dann nickte er. «Meine Güte, du scheinst ja wirklich unter Druck zu stehen.
Aber gut, dann werde ich dich morgen früh wecken. Draußen auf dem Gang ist übrigens ein Kaffeeautomat; ich werde ihn gleich
noch einschalten. Kleingeld findest du in der oberen Schublade. Und eine Wolldecke liegt unten im Wandschrank. Brauchst du
sonst noch was?»
Marthaler lächelte. «Nein danke. Du bist ein Held. Ich weiß, ich bin im Moment eine Zumutung. Aber sei mir nicht böse. Wir
holen das Plaudern nach.»
Kamphaus verabschiedete sich. Bevor er den Raum verließ, drehte er sich noch einmal um. Auf seinem Gesicht hatte sich
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