Ein allzu schönes Mädchen
ein winziges Gartengrundstück vorgelagert war. Vor der Hausnummer 20 stieg Marthaler
aus. Hinter dem Fenster im Erdgeschoss bewegte sich die Gardine. Auf dem Klingelschild stand nur der Name Grandits. Es war
nicht zu erkennen, ob die Lehrerin hier allein lebte. Bevor er noch läuten konnte, wurde die Haustür geöffnet. Sie hatte auf
ihn gewartet.
Sie war eine üppige, nicht sehr große Frau. Er schätzte sie auf Ende vierzig. Ihr freundliches Gesicht war blass. Sie wirkte
müde und bat ihn mit leiser Stimme herein. Marthaler war irritiert. Das Aussehen und das Auftreten der Lehrerin widersprachen
dem Bild, das er sich von ihr gemacht hatte. Ohne sich darüber Rechenschaft abzulegen, hatte er eine kalte, hartherzige Frau
erwartet, die er einer strengen Befragung unterziehen wollte. Jetzt merkte er, wie sein Vorsatz verflog.
Er folgte ihr in ein Wohnzimmer, das mit einer ungewöhnlichen Mischung aus alten und modernen Möbeln eingerichtet war. Jedes
Teil für sich schien mit Bedacht ausgewählt zu sein, ohne jedoch zum Rest des Mobiliars zu passen. Und trotzdem |392| harmonierte alles aufs angenehmste, sodass Marthaler sich in dem Raum auf Anhieb wohl fühlte. Lieselotte Grandits zeigte auf
einen Sessel und bat ihren Gast, Platz zu nehmen. Während sie in die Küche ging, um Kaffee zu kochen, schaute er sich um.
Das große Regal an der gegenüberliegenden Wand war gefüllt mit französischer Literatur. Er erkannte eine mehrbändige Ausgabe
mit den Werken Stendhals, einen kompletten Flaubert und Prousts «À la recherche du temps perdu». Rechts und links der nur
angelehnten Tür, die zum Nachbarzimmer führte, hingen zwei kleine Gemälde Chaim Soutines, dessen Bilder Marthaler vor Jahren
einmal in einer Ausstellung bewundert hatte. Und neben seinem Sessel lag auf einem Lesetisch die gleiche illustrierte Ausgabe
von Choderlos de Laclos’ «Liaisons dangereuses», aus der ihm Katharina gerne vorgelesen hatte.
Als Lieselotte Grandits mit nur einer Tasse Kaffee zurückkam, die sie neben Marthaler auf das Tischchen stellte, lächelte
sie ihm zu.
«Schön haben Sie es hier», sagte Marthaler.
«Ja», antwortete sie. Aber es klang wie der Seufzer einer unglücklichen Frau. «Wollen Sie mir Ihre Fragen stellen?»
Marthaler nickte. «Wie gut kannten Sie Marie-Louise Geissler?»
«Wir mochten uns. Sie hat mich besucht. Das ist alles.» Sie zögerte einen Moment, dann schüttelte sie den Kopf. «Nein, das
stimmt nicht. Wir mochten uns sehr, wir waren fast so etwas wie Freundinnen.»
«Das ist nicht wenig … zwischen einer Lehrerin und ihrer Schülerin. Oder?»
«Ja. Es kommt nicht mehr oft vor, dass man das Vertrauen eines Schülers gewinnt.»
«Wie oft war Marie-Louise bei Ihnen? Über was haben Sie gesprochen?»
|393| «Nach der Scheidung von meinem Mann, den sie nicht mochte, kam sie ein-, zweimal die Woche. Sie hat mir von den Schwierigkeiten
mit ihrem Vater erzählt. Wissen Sie, das Mädchen war sehr neugierig und klug, sehr eigenwillig …»
«Und sehr schön, nicht wahr?»
Die Lehrerin nickte. «Ja. Außergewöhnlich schön.»
«Hat sie Ihnen erzählt, dass ihr Vater sie missbraucht habe?» Marthaler merkte, wie die Lehrerin zögerte. Zwar hatte sie die
Frage offensichtlich erwartet, schien sie aber möglichst genau beantworten zu wollen.
«Wissen Sie, wie ich darauf gekommen bin, dass Sie es waren, die den anonymen Brief an die Schulbehörde geschrieben hat?»,
fragte Marthaler.
Lieselotte Grandits schüttelte den Kopf.
«Ich habe heute Nacht die Protokolle gelesen. In der Befragung haben Sie Peter Geissler einen bigotten Menschen genannt. Und
genau so steht es auch in dem Brief. ‹Bigotterie›– das ist kein sehr gebräuchliches Wort.»
«Aber auch kein so ungewöhnliches», erwiderte die Lehrerin.
«Mag sein», sagte Marthaler. «Aber es hat mich aufmerken lassen. Und als ich dann sah, dass Sie zu jenen Lehrern gehörten,
die sich um die Rektorenstelle beworben haben, war ich sicher, dass Sie den Brief geschrieben haben.»
Lieselotte Grandits nickte. Sie ist erleichtert, dachte Marthaler. Ihr Herz ist schwer, aber sie ist erleichtert, dass jemand
die Wahrheit ausspricht. Er wiederholte seine Frage: «Hat Marie-Louise von Missbrauch gesprochen oder nicht?»
«Sie hat es … nahe gelegt.»
«Was heißt das: Sie hat es nahe gelegt? Oder waren Sie es vielleicht, die ihr das nahe gelegt hat?»
Marthalers Ton war schärfer ausgefallen als
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