Ein allzu schönes Mädchen
setzen.»
«Soll ich Kaffee machen?»
Marthaler nickte. Er ging auf den Balkon und setzte sich in einen der beiden Liegestühle. Als Tereza ihm den Kaffee servieren
wollte, war er bereits eingeschlafen.
Geweckt wurde er, weil jemand seinen Namen flüsterte. Er schlug die Augen auf. Tereza stand neben ihm. Sie hatte eine Hand
auf seine Schulter gelegt, um ihn sanft wachzurütteln. Er schaute auf die Uhr. Er hatte fast vier Stunden geschlafen.
«Entschuldige, Robert. Es ist jemand am Telefon, der dich dringend sprechen möchte.»
Marthaler nickte. Er stand auf, ging ins Badezimmer und schlug sich einen Schwall Wasser ins Gesicht. Dann ging er zum Telefon
und meldete sich.
«Wer kennt diese Frau?», fragte die Stimme am anderen Ende.
Marthaler war irritiert. Er dachte, die Frage bezöge sich auf Tereza. Es war die Stimme eines Mannes, die ihm bekannt vorkam,
die er aber nicht zuordnen konnte.
«Wer spricht, bitte?», fragte er.
«Ja, wer spricht? Du kommst nicht drauf! Ich gebe dir einen Hinweis: Wiesbaden, Frühjahr 1990.»
Marthaler überlegte. Dann wusste er, wer der Anrufer war. Er musste lächeln. «Kamphaus. Stimmt’s? KD Kamphaus.»
|376| «Volltreffer.»
Marthaler und Kamphaus hatten sich vor zehn Jahren auf einem zweiwöchigen Psychologie-Seminar des Bundeskriminalamtes kennen
gelernt. Sie hatten sich sofort gemocht und waren die folgenden Abende gemeinsam durch die Wiesbadener Weinstuben gezogen.
Trotzdem war es eine der typischen Seminar-Bekanntschaften geblieben. Sie hatten sich im darauf folgenden Jahr noch ein paar
Postkarten geschrieben und immer wieder ein Treffen ins Auge gefasst, zu dem es dann aber doch nie gekommen war. Das Letzte,
was Marthaler von Kamphaus gehört hatte, war, dass dieser kleine, rundliche Genussmensch mit den ewig feuchten Lippen eine
Stelle bei der Kripo in Saarbrücken antreten wollte.
«Schön, von dir zu hören», sagte Marthaler. «Woher hast du meine Nummer?»
«Bin ich Polizist? Also: Wer kennt diese Frau?»
Langsam dämmerte Marthaler, was Kamphaus mit seiner Frage meinte. Sie konnte sich nur auf die Suche nach dem fremden Mädchen
beziehen, auf das Phantombild, das sie vor zwei Tagen in die interne Fahndung gegeben hatten.
«Heißt das, du kennst sie?», fragte Marthaler. Er merkte, wie er sich binnen Sekunden wieder ganz auf den Fall konzentrierte.
«Weißt du, wo sie sich aufhält? Wo bist du überhaupt? Wir müssen sie unbedingt finden.»
«Nun mal langsam», sagte Kamphaus. «Ich bin in Saarbrücken. Im LKA.»
«Im LKA?»
«Ja» sagte Kamphaus, «aber spar dir deine Kommentare. Also: Eigentlich habe ich noch bis morgen früh Urlaub. Bin nur mal ins
Büro gegangen, um mir meinen Schreibtisch anzuschauen. Und als ich eben den Computer anschalte, sehe ich eure Fahndung. Das
Porträt ist keine Meisterleistung, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass es sich bei der Kleinen um ein |377| Mädchen handelt, das wir vor anderthalb Jahren eine Zeit lang gesucht, aber niemals gefunden haben. Ihre Familie ist bei einem
merkwürdigen Unfall in den Nordvogesen ums Leben gekommen. Die Geschichte ist etwas länger …»
Marthaler unterbrach ihn.
«Wie lange braucht man mit dem Zug von Frankfurt nach Saarbrücken?», fragte er.
«Ich weiß nicht. Vielleicht zweieinhalb Stunden.»
«Bleib, wo du bist», sagte Marthaler. «Ich nehme die nächste Verbindung. Und bestell mir bitte ein Hotelzimmer in deiner Nähe.»
Er überlegte kurz, ob ihm die Kollegen diesen erneuten Alleingang übel nehmen könnten, beruhigte sich aber damit, dass ihm
schließlich niemand vorzuschreiben hatte, was er mit seinem Sonntagabend anfing.
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|379| Dritter Teil
|381| Eins
Der Regionalexpress aus Frankfurt kam pünktlich um 21.54 Uhr im Hauptbahnhof von Saarbrücken an. Klaus Dieter Kamphaus, genannt KD, stand bereits am Gleis und wartete auf seinen Kollegen.
Die beiden fixierten sich, dann grinsten sie sich an und umarmten einander zur Begrüßung. Einen Moment lang spürten beide
jene kleine Verlegenheit, die entsteht, wenn man sich lange Zeit nicht gesehen hat.
Kamphaus sah Marthaler von der Seite an.
«Du hast dich aber wirklich überhaupt nicht …»
Marthaler unterbrach ihn.
«Lüg nicht», sagte er. «Du wolltest sagen, dass ich mich nicht verändert habe. Das ist nicht wahr. Ich bin älter geworden,
ich bin dicker geworden, und ich bin langsamer geworden. Also komm, erzähl mir die Geschichte von dem
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