Ein allzu schönes Mädchen
Mädchen.»
Während sie nebeneinander hergingen, begann Kamphaus mit seinem Bericht. «Es war vor sechzehn Monaten, im April 1999. Wir bekamen von den Kollegen aus dem Elsass die Mitteilung, dass ein Personenwagen aus Saarbrücken zwischen Schirmeck und
Barr einen schweren Unfall hatte. An der Unglücksstelle wurden drei Tote gefunden: der Halter des Fahrzeugs, ein arbeitsloser
Lehrer namens Peter Geissler, seine Frau und der zehnjährige Sohn.»
«Wie kann ein Lehrer arbeitslos werden?», fragte Marthaler.
«Warte», sagte Kamphaus. «Das ist ein Teil der Geschichte, die ich dir erzählen werde. Also: Der Wagen war einen steilen Abhang
hinuntergerast, hatte sich mehrmals überschlagen |382| und war dann an einem Baum zerschellt. Weil wir keine Bremsspuren fanden, nahmen wir an, dass der Fahrer eingeschlafen sein
musste. Marie-Louise, die sechzehnjährige Tochter des Ehepaares, blieb unauffindbar. Da wir sie weder in der elterlichen Wohnung
noch bei Nachbarn oder Freunden antrafen, mussten wir annehmen, dass sie ebenfalls in dem Unfallwagen gesessen hatte. Gemeinsam
mit der französischen Polizei klapperten wir sämtliche Krankenhäuser im Umkreis von hundertfünfzig Kilometern diesseits und
jenseits der Grenze ab – ohne Ergebnis. Wir machten uns auf die Suche nach Verwandten der Familie, konnten aber außer einer
in Paris lebenden Schwester der Frau niemanden ermitteln. Also begannen wir mit der Ochsentour. Wir befragten alle, die mit
Marie-Louise oder ihrer Familie in irgendeiner Weise zu tun hatten: Mitschüler, Freundinnen, die Nachbarschaft, die Lehrer.
Niemand konnte uns Auskunft geben, ob das Mädchen gemeinsam mit der Familie in das Elsass gefahren war. Niemand wusste etwas
über ihren Verbleib. Und keiner hatte eine Ahnung, was die Geisslers überhaupt in Frankreich vorhatten, ob sie jemanden besuchen
oder einfach einen Wochenendausflug machen wollten. Es war wie verhext. Kurz darauf tauchte die Schwägerin Geisslers bei uns
auf. Sie war extra aus Paris nach Saarbrücken gekommen. Sie legte uns den Schlüssel eines Bankschließfachs vor, den ihr Schwager
ihr wenige Wochen zuvor kommentarlos zugeschickt hatte. Gemeinsam mit ihr haben wir das Fach geöffnet. Es enthielt nichts
außer einem Brief von Peter Geissler.»
Kamphaus machte eine Pause. Sie waren inzwischen am Ende der Bahnhofstraße angekommen, überquerten einen Platz und gingen
weiter in die Mainzer Straße.
«Bist du hungrig, wollen wir noch eine Kleinigkeit essen?»
«Nein», sagte Marthaler. «Bitte, erzähl weiter. Was stand in dem Brief?»
|383| «Vielleicht ist Brief das falsche Wort. Es war ein Schreiben, das an niemanden gerichtet war. Eine Erklärung, die wir zunächst
nicht recht verstanden. Geissler schrieb, dass nicht jeder, der unter Verdacht gerate, auch schuldig sei. Dass nur Gott beurteilen
könne, ob ein Herz rein oder befleckt sei. Dass der Hochmut und die Selbstgerechtigkeit unbekannter Menschen sein Leben und
seine Familie zerstört hätten. Und zum Schluss stand dort der Satz: ‹Herr im Himmel, sei uns armen Sündern gnädig.› Das alles
wirkte ein wenig wirr, und wir konnten nicht viel damit anfangen. Immerhin mussten wir nun davon ausgehen, dass es sich bei
dem Schreiben um eine Art Abschiedsbrief handelte.»
«Und dass der Unfall kein Unfall war», warf Marthaler ein.
«Genau. Das ist aber auch das Einzige, was in diesem Fall festzustehen scheint. Obwohl er dies nicht ausdrücklich geschrieben
hat, bin ich nach wie vor davon überzeugt, dass Geissler sich und seine Familie absichtlich in den Tod gefahren hat.»
«Und dann, was habt ihr dann gemacht?»
«Wir suchten weiter erfolglos nach dem Mädchen und begannen mit unseren Befragungen von vorne. Wir wollten herausbekommen,
was Geissler mit seinen dunklen Andeutungen gemeint hatte. Aber alle, mit denen wir sprachen, schienen uns auszuweichen. Es
machte den Eindruck, als fühlten sie sich mitschuldig am Tod der Familie.»
«Wieso denn das?»
«Geissler war Lehrer an einem Gymnasium, das auch seine Tochter Marie-Louise besuchte. Der alte Schulleiter war erkrankt.
Er sollte Anfang des Jahres 1999 vorzeitig in Pension gehen. Peter Geissler bewarb sich, wie einige Kollegen auch, um die
frei werdende Stelle. Man räumte Geissler gute Chancen ein, den Posten zu bekommen. Kurz bevor die Entscheidung fiel, ging
im Schulamt ein anonymes Schreiben ein, in |384| dem der Verdacht geäußert wurde, Geissler habe
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