Ein allzu schönes Mädchen
ein
Grinsen breit gemacht. «Wer war übrigens die Frau mit der netten Stimme, die ich vorhin in deiner Wohnung am Telefon hatte?»
«Raus jetzt!», sagte Marthaler.
Er saß allein in dem stillen Büro und schaute auf den Stapel mit Akten. Er war immer wieder erstaunt, welche Mengen beschriebenen
Papiers sich binnen kurzer Zeit bei einem Fall ansammelten. Und stets verbargen sich dahinter Geschichten von Menschen, die
nach Erfüllung suchten oder nur nach dem kleinen Glück in ihrem Leben und denen dabei irgendetwas oder irgendjemand in die
Quere gekommen war. Und fast immer gab es einen Punkt, wo aus einem kleinen Konflikt eine |387| heillose Tragödie wurde. Als würde eine Zentrifuge in Gang gesetzt, deren Kräfte so stark waren, dass alle Beteiligten aus
ihrer Mitte herausgeschleudert wurden.
Unkonzentriert begann er zu blättern. Ab und zu sah er auf die Uhr, die gegenüber an der Wand hing und deren großer Zeiger
jede Minute mit einem leisen Klacken weiterrückte. Schon auf den ersten Seiten stieß Robert Marthaler auf den anonymen Brief
an die Schulbehörde, von dem Kamphaus ihm erzählt hatte. Das Schreiben bestand nur aus wenigen Sätzen. Er zog das Papier aus
der Klarsichthülle. Es handelte sich um ein weißes DIN-A 4-Blatt , das offensichtlich mit einem Laserdrucker beschrieben worden war. Er las den kurzen Text mehrere Male durch:
«Der Verfasser dieses Briefes wurde zweifelsfrei darüber unterrichtet, dass der Pädagoge Peter Geissler seine Tochter Marie-Louise
während deren Kindheit wiederholt missbraucht hat. Dies und die maßlose Bigotterie, die dieser Mann an den Tag legt, machen
ihn unserer Auffassung nach ungeeignet dafür, weiterhin Schüler zu unterrichten. Ziehen Sie Ihre Schlüsse daraus!»
Marthaler dachte darüber nach, was es zu bedeuten hatte, dass im ersten Satz des Schreibens von
einem
Verfasser die Rede war, weiter unten aber der Eindruck erweckt wurde, als hätten mehrere Personen diesen Brief geschrieben.
Er kam zu keinem Ergebnis. Wer hatte ein Interesse an einer solchen Anschuldigung gehabt? Doch wohl nur die Mitbewerber um
den Posten des Rektors. Hatten der oder die Verfasser, wenn sie sich so sicher waren, dass der Vorwurf der Wahrheit entsprach,
sich deshalb nicht zu erkennen gegeben?
Nachdem er sämtliche Aktenordner flüchtig gesichtet hatte, |388| begann er von vorn und kämpfte sich nun systematisch durch die Berge von Material, die sich während der Arbeit an dem Fall
angehäuft hatten. Er las die Ermittlungsberichte, die Gutachten von Kfz-Sachverständigen, die das Autowrack der Geisslers
untersucht hatten, Hunderte Zeugenprotokolle und zahllose Abschriften von Telefongesprächen. Es gab Hinweise von Anrufern,
die Marie-Louise nach dem Unglück in Hamburg, an der Côte d’Azur oder in einem Dorf in der Nähe Saarbrückens gesehen haben
wollten. All diesen Hinweisen war nachgegangen worden, doch keiner hatte zu einem Ergebnis geführt. Selbst lange nachdem die
Polizei ihre aktive Suche eingestellt hatte, waren von Zeit zu Zeit noch Meldungen aus der Bevölkerung gekommen. Ein Lkw-Fahrer
gab an, die Gesuchte ähnele der Kellnerin einer Autobahnraststätte in der Nähe von Basel. Eine Geschäftsfrau aus Saarlouis
behauptete, das Mädchen auf einem Dorffest in den Nordvogesen erkannt zu haben. Und ein Student wollte sie in Begleitung einer
älteren Frau im Foyer eines Kinos gesehen haben.
Auf dem Boden neben dem Schreibtisch standen drei braune Kartons mit persönlichen Unterlagen der Geisslers, die die Beamten
in der Wohnung sichergestellt hatten. Es befanden sich Kontoauszüge darin, Versicherungspolicen, Adressbücher, Briefe und
Familienfotos. Wie immer, wenn Marthaler gezwungen war, die persönlichen Hinterlassenschaften fremder Menschen zu untersuchen,
hatte er das Gefühl, etwas Unrechtes zu tun. Ihr gewaltsames Ende nahm den Toten auch noch das Recht auf einen kleinen Rest
von Diskretion.
Er blätterte in der Mappe mit den Kontoauszügen und stellte fest, dass das schmale Guthaben der Familie in den letzten Monaten
immer mehr zusammengeschmolzen war. Er schaute sich die Fotoalben an, in der Hoffnung, irgendetwas zu finden, das ihn der
Wahrheit näher brachte. Aber alles, was er sah, war eine ganz und gar durchschnittliche Familie, deren Kinder |389| langsam älter wurden. Es gab Aufnahmen von gemeinsamen Urlauben an irgendeinem Strand, von Geburtstagen und Weihnachtsfeiern.
Lachende
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