Ein allzu schönes Mädchen
Gesichter, herausgestreckte Zungen, ein Zoobesuch, die Konfirmation, immer wieder Kirchenbesuche, aber auch Sandburgen,
neue Fahrräder, Lampions, die Kinder beim Ponyreiten, ein Gartenfest bei Freunden. Ihm fiel auf, dass Marie-Louise auf den
Fotos der letzten beiden Jahre seltener zu sehen war. Und dass ihr Gesichtsausdruck nicht mehr so unbeschwert kindlich war.
Die Bilder zeigten ein ebenso ernstes wie attraktives Mädchen, dessen Miene Abwehr demonstrierte. So als wolle Marie-Louise
sagen: Lasst mich in Ruhe, das ist mir alles zu dumm, was wisst ihr denn, ich habe damit nichts mehr zu tun. Aber Marthaler
war sich nicht sicher, ob er aus diesem Eindruck Schlüsse ziehen durfte. Vielleicht hätten sich solche Fotos in den Alben
jeder vergleichbaren Familie gefunden. Marie-Louise war in einem Alter, in dem sich alle Mädchen von ihren Eltern lösten.
Und vielleicht war ein solcher Prozess in einer so tief religiösen Familie, wie es die Geisslers wohl gewesen waren, schwerer,
auch schmerzhafter als in anderen Familien.
Marthaler suchte eines der letzten Porträts von Marie-Louise aus, löste es von der Seite und steckte es in die Innentasche
seines Jacketts. Das Phantombild würden sie jetzt nicht mehr brauchen. Dann klappte er das Fotoalbum zu und legte es zurück
in den Karton. Er rieb sich die Augen. Es war kurz vor halb drei. Er ging auf den Gang und zog sich am Automaten einen Kaffee.
Zurück im Büro, schaute er sich noch einmal den Ordner mit den Aussagen von Peter Geisslers Kollegen an. Alle beschrieben
ihn als einen freundlichen, aber sehr gläubigen und prinzipienfesten Menschen. Er hatte keinen Alkohol getrunken, hatte an
den Feiern des Kollegiums nicht teilgenommen, war aber immer bereit gewesen, eine Vertretung zu übernehmen |390| oder ein paar Stunden zu tauschen, wenn er damit jemandem einen Gefallen tun konnte. Seine fachliche Kompetenz stand außer
Frage, allerdings galt er in seinen Ansichten als ein wenig altmodisch.
Das, dachte Marthaler, sagt man über mich auch. Er blätterte weiter und stieß auf das Aussageprotokoll einer Französischlehrerin
namens Lieselotte Grandits. Sie hatte Marie-Louise Geissler unterrichtet und, wie sie betonte, die Schülerin sehr gemocht.
Gelegentlich hätten sie sich sogar privat getroffen. Ihre Beschreibung Peter Geisslers unterschied sich kaum von den Schilderungen
der anderen Lehrer. Trotzdem gab es in der Aussage von Lieselotte Grandits etwas, das Marthaler aufmerken ließ. Aber erst
nach wiederholter Lektüre fand er den Grund.
«Das ist ja ein Ding», sagte er laut. Und war erschrocken, plötzlich seine eigene Stimme in der Stille des Büros zu hören.
Er suchte noch einmal die Liste des Schulamtes, auf der die Bewerber um die Rektorenstelle aufgeführt waren. An dritter Stelle
fand sich der Name der Französischlehrerin. Marthaler schrieb Adresse und Telefonnummer von Lieselotte Grandits auf einen
Zettel und überlegte, ob er sofort bei ihr anrufen sollte. Er entschied, dass er um diese Uhrzeit schlecht eine Zeugin aus
dem Bett holen konnte, dass es besser war, wenn er versuchte, sich selbst erst einmal ein paar Stunden auszuruhen. Er legte
die Arme auf den Schreibtisch und bettete den Kopf darauf. Nach wenigen Minuten war er eingeschlafen.
Es dauerte einige Augenblicke, bis sich am anderen Ende der Leitung eine müde Frauenstimme meldete. Marthaler schaute auf
die Uhr. Es war noch nicht einmal halb sieben. Eine Viertelstunde zuvor war er mit verspanntem Nacken und schmerzenden Armen
am Schreibtisch von Klaus Dieter Kamphaus im Saarbrücker Landeskriminalamt aufgewacht. Er war zur |391| Toilette gegangen, hatte sich das Gesicht gewaschen und den Mund ausgespült. Er hatte ein paar gymnastische Übungen gemacht
und dann die Nummer von Lieselotte Grandits gewählt.
Er merkte, wie die Frau stutzte, als er ihr sagte, wer er war und was er von ihr wollte.
«Bleiben Sie, wo Sie sind», sagte Marthaler. «Ich bin in einer halben Stunde bei Ihnen. Ich muss mit Ihnen sprechen.»
Er verließ das Polizeigebäude, suchte sich ein Taxi und nannte dem Fahrer die Adresse. Sie fuhren quer durch die Stadt und
gelangten bald in einen der westlichen Vororte Saarbrückens. Es war ein ruhiges Viertel, in dem die Französischlehrerin wohnte.
Sie bogen in eine kleine Seitenstraße ab, deren hinteres Ende in einen Feldweg überging. Rechts und links standen niedrige,
weiß verputzte Doppelhäuser, denen jeweils
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