Ein allzu schönes Mädchen
vorgenommen, noch einmal an den Fundort der Leiche zurückzukehren. Weil er sich im Stadtwald nicht auskannte,
nahm er den gleichen Weg, den er am Morgen gemeinsam mit Manfred Petersen auf dem Motorrad gefahren war. Später würde er feststellen,
dass es eine viel kürzere Strecke gab und dass die Stelle im Wald, wo der Tote gelegen hatte, kaum zehn Radminuten von seiner
Wohnung entfernt lag.
Dort, wo die Kesselbruchschneise den Steinweg kreuzte, standen noch immer Polizisten und bewachten die Absperrung. Die Leiche
hatte man zur Obduktion in das Gerichtsmedizinische Institut gebracht. Marthaler schloss sein Fahrrad ab und bat einen der
Uniformierten, ein Auge darauf zu haben. Einige Kollegen der Spurensicherung suchten nun auch den weiteren Umkreis Zentimeter
für Zentimeter ab. Marthaler nickte ihnen zu, er hatte nicht vor, sie bei ihrer Arbeit zu stören. Er wollte lediglich ein
Gespür für das Gelände bekommen, wollte eine Vorstellung davon gewinnen, warum das Opfer und der Täter ausgerechnet hier aufeinander
getroffen waren. Oder waren sie bereits gemeinsam gekommen? Kannten sie sich? Hatten sie ein Geschäft abgewickelt? Ging es
um Drogen? Und warum war der junge Mann nicht einfach getötet, warum war er auf eine so barbarische Weise umgebracht worden? |84| Sie wussten nichts. Und er fürchtete, dass sie so lange nicht weiterkommen würden, bis sie wussten, wer der Tote war.
Marthaler ging den Waldweg ein Stück hinunter. Noch immer versammelten sich Gruppen von Schaulustigen am Rand der Absperrung.
Im Abstand von wenigen Minuten donnerten die Flugzeuge über den Wald hinweg. Marthaler verließ den befestigten Weg. Bereits
ein paar Schritte weiter befand er sich im dichten Unterholz, und kurz darauf stand er vor einem weitmaschigen Zaun, der eine
Schonung begrenzte. Er fand eine Stelle, wo der Zaun eingerissen war, und kroch durch die Öffnung. Er konnte nur noch gebückt
gehen und musste sich durch das Dickicht der Büsche und Zweige hindurchkämpfen. Bald waren seine Arme und sein Gesicht zerkratzt.
Er hatte Angst, die Orientierung zu verlieren. Und kaum Hoffnung, etwas zu entdecken, das ihnen weiterhalf.
Er hielt inne.
Für einen Moment hatte er geglaubt, in der Nähe ein Geräusch gehört zu haben.
Sein Atem ging schwer.
Er lauschte. Aber außer den Flugzeugen und dem Motorenlärm von der Babenhäuser Landstraße war nichts zu hören. Er machte sich
auf den Rückweg, doch drei Schritte weiter blieb er wieder stehen. Sein Herz schlug ein wenig schneller. Da. Es war, als ob
sich in seiner Nähe jemand bewegte und immer im selben Moment stehen blieb wie er selbst. Er wagte nicht, sich umzudrehen.
Er bewegte den Kopf nach rechts und links und versuchte, etwas zu erkennen, aber das Gestrüpp war zu dicht.
Plötzlich hörte er hinter sich eine Stimme. «Mensch, Marthaler, du hast mich vielleicht erschreckt.»
Marthaler atmete durch.
«Danke, gleichfalls», sagte er und wandte sich um.
Es war Schilling, der jetzt hinter ihm auftauchte und ein Lächeln versuchte.
|85| «Hatten wir wohl dieselbe Idee», sagte der Chef der Spurensicherung.
«Nee», sagte Marthaler, «nach Spuren habe ich nicht gesucht.»
«Sondern? Zum Pilzesammeln wirst du ja wohl auch nicht hergekommen sein. Und ich dachte, du wolltest mir meinen Arbeitsplatz
streitig machen.»
«Ich weiß nicht. Ich wollte mich einfach mit dem Gelände hier ein wenig vertraut machen. Ich habe keine Ahnung, was ich sonst
tun soll. Solange ich von euch kein Ergebnis bekomme, bin ich ratlos.»
«Komm», sagte Schilling, «ich zeige dir etwas.»
Sie kämpften sich durchs Unterholz, bis sie auf einen alten, offensichtlich kaum noch benutzten Weg gelangten, der genau zwischen
dem Waldrand und dem vierspurigen Autobahnzubringer verlief.
«Bist du dir inzwischen sicher, dass der Fundort der Leiche auch der Tatort ist?», fragte Marthaler.
«Definitiv», sagte Schilling. «Es ist so viel Blut in den Waldboden gesickert, dass ein anderer Ort nicht in Frage kommt.»
«Das heißt, der Täter und das Opfer haben sich hier getroffen. Aber was haben sie hier gemacht? Welche Gründe fallen dir ein,
sich im Wald aufzuhalten?»
«Warum gehst du in den Wald?»
«Um spazieren zu gehen.»
«Man kann hier Rad fahren, man kann Pilze oder Beeren sammeln, man kann seinen Hund ausführen, man kann den Wald auch einfach,
wie Hegemann, auf seinem Weg zur Arbeit durchqueren. Man kann sich hier zu einem Picknick treffen oder
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