Ein allzu schönes Mädchen
versuchte, einen
Moment lang an etwas anderes als an den Toten im Wald zu denken. Es gelang ihm nicht. Er hatte gerade beschlossen, Elvira
anzurufen, um zu fragen, ob im Büro irgendwelche Nachrichten für ihn eingegangen seien, als sein Mobiltelefon läutete. Es
war Manfred Petersen.
«Mir ist eingefallen, woher ich Werner Hegemann kenne», sagte er.
«Woher? Nein, lass! Wo bist du?», fragte Marthaler.
«Im Präsidium. In deinem Büro.»
«Warte auf mich. Ich komme sofort. Und bitte Elvira, die Espressomaschine vorzuheizen.»
Zwanzig Minuten später hatte er den Platz der Republik erreicht. Er fuhr auf den Hof, kettete sein Rad vor dem Hintereingang |89| fest und stürmte die Treppen hinauf. Kurz bevor er sein Büro erreicht hatte, begegnete ihm Kerstin Henschel auf dem Gang.
«Was machst du denn hier?», fragte er außer Atem. «Ich denke, du hast dich krankgemeldet?»
«Quatsch. Wer erzählt denn so einen Unfug? Ich war nur kurz beim Arzt und habe mir ein paar Beruhigungstabletten verschreiben
lassen.»
«Entschuldige. Und ich habe dich schon verflucht! Kannst du gleich mit in mein Büro kommen?»
Zu dritt saßen sie um den kleinen runden Besprechungstisch und rührten in ihren Tassen.
«Also?», sagte Marthaler und sah Petersen erwartungsvoll an.
«Ich bin Werner Hegemann nicht nur einmal, sondern bereits zweimal begegnet. Andernfalls hätte ich mich wahrscheinlich gar
nicht an ihn erinnert. Der Groschen ist bei mir gefallen, als wir heute Mittag die Bombendrohung erhielten …»
«Was ist eigentlich daraus geworden?», fragte Marthaler.
«Blinder Alarm», sagte Petersen. «Aber mir ist plötzlich klar geworden, woher ich Hegemann kenne. Als ich mir im Frühjahr
vor vier Jahren einen Gebrauchtwagen kaufen wollte, habe ich die Angebote im Kleinanzeigenteil der Zeitung durchgesehen. Eine
dieser Annoncen hatte Hegemanns Vater aufgegeben, der damals in einem Bungalow auf der Berger Höhe wohnte. Ich fuhr hin, um
mir den Wagen anzuschauen, und traf dort nur den Sohn, der mir die Garage aufschloss und das Auto zeigte. Ich habe den Wagen
damals nicht genommen und hätte das Ganze sicher vergessen, wenn ich Werner Hegemann nicht drei oder vier Wochen später noch
einmal begegnet wäre. Wenn ich mich recht erinnere, war es ein Freitagnachmittag. Im Waldstadion sollte zwei Stunden später
ein großes Rockkonzert stattfinden, als wir gegen siebzehn Uhr |90| eine telefonische Bombendrohung erhielten. Wir konnten den Anruf zurückverfolgen, er war aus einer öffentlichen Telefonzelle
an der Wittelsbacher Allee gekommen. Als wir hinkamen, war der Anrufer zwar verschwunden, aber direkt nebenan befand sich
eine Kneipe, die als Treffpunkt einer Gruppe rechter Jugendlicher bekannt war. Wir kontrollierten die Gäste, unter denen ich
Werner Hegemann wieder erkannte. Obwohl wir ziemlich sicher waren, dass der Anruf aus diesem Kreis gekommen war, konnten wir
niemandem etwas nachweisen. Es war übrigens auch damals blinder Alarm. Das Waldstadion wurde durchsucht, und das Konzert konnte
mit einer Stunde Verspätung beginnen.»
Marthaler konnte seine Enttäuschung nur schwer verbergen. Er wusste nicht, was er gehofft hatte zu erfahren, aber er war sich
jetzt sicher, dass Hegemann nichts mit dem Mord im Wald zu tun hatte.
Petersen schaute ihn an. «Du wolltest etwas anderes hören, nicht wahr?»
Marthaler schüttelte langsam den Kopf. «Nein, schon gut. Jedenfalls können wir uns jetzt Hegemanns merkwürdiges Verhalten
erklären. Es ist, wie ich mir gedacht habe: Ganz sauber ist der Kerl nicht, aber in unserem Fall ist er lediglich ein Zeuge.
Er hat die Leiche gefunden, und das ist alles.»
Marthaler stand auf, ging ans Fenster und schaute hinaus. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite hockte ein Mädchen zwischen
zwei parkenden Autos, band sich den Arm ab und setzte sich einen Schuss. Die Berufstätigen, die gerade Feierabend hatten,
liefen an der jungen Frau vorbei, ohne sie zu beachten. Marthalers Kopfschmerz meldete sich erneut. Gerade wollte er seinen
Kollegen vorschlagen, gemeinsam eine Pizza essen zu gehen, als Elvira den Kopf zur Tür hereinstreckte. «Robert, entschuldige
bitte, Sabato ist am Telefon, er sagt, es sei dringend.»
|91| Sieben
Am Morgen desselben Tages, des 8. August 2000, nicht lange nachdem Werner Hegemann unweit der Kesselbruchschneise die unter Laub und Zweigen verborgene Leiche
eines unbekannten jungen Mannes entdeckt hatte, näherte
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